Am Anfang war der Chef

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„Mein Name ist Mina Lehmann, ich arbeite seit gut drei Jahren bei Wagner & Sohn als Architektin und mache berufsbegleitend meinen Master in Architektur. In meiner Freizeit spiele ich gerne Ukulele und mein lustigstes Erlebnis mit Herrn Wagner war bisher das Meeting mit der Stadt letztes Jahr, als er versucht hat, die Animationen, die in der Präsentation nicht funktioniert haben, mit dem Modell nachzuspielen". Ich setze mich unter allgemeinem Gelächter hin und bin froh, dass ich es geschafft habe, die geforderte lustige Anekdote über meinen Chef zu finden, ohne mich über ihn lustig zu machen. Was für eine blöde Idee, seinen 60. Geburtstag mit einem zweitägigen Firmen-Retreat zu feiern. Aber wenigstens ist das Ganze unter der Woche und versaut mir kein Wochenende.

Nach der „lustigen" Vorstellungsrunde und einer viel zu langen Ansprache vom Chef höchstpersönlich gibt es einen Sektempfang. Ich stelle mich an einen Stehtisch zu Marco, meinem Mentor und Christina, unserer Verwaltungsfachkraft und meiner Büro-Kollegin. Die beiden sind schon länger in der Firma und erinnern sich lachend an den letzten runden Geburtstag des Chefs, der in einem exklusiven Restaurant gefeiert wurde, jedoch eher dadurch im Gedächtnis blieb, dass der Sohn des Chefs eine Praktikantin einen Klaps auf den Arsch gegeben hat und diese ihm daraufhin ihren Rotwein ins Gesicht geschüttet hat. „Du hättest das Gesicht vom Chef sehen sollen, Mina. Der hat Torsten angeschaut, als ob er Fünfzehn wäre und nicht Mitte Dreißig und sein Geschäftspartner. Ich glaube, er hat nach der Aktion Hausarrest bekommen" schmunzelt Christina.

Noch während wir über die Vorstellung lachen, kommt Torsten auf uns zu. Ich überlege kurz, ob er uns gehört haben könnte, doch sein Lächeln lässt anderes vermuten. "Mina" er bleibt direkt vor mir stehen "ich wusste ja gar nicht, dass du Ukulele spielst! Warum hast du sie denn nicht mitgebracht? Du hättest uns doch was Schönes vorspielen können!".

Ich hoffe, mein Lächeln sieht echter aus, als es sich anfühlt. "Ich habe sie tatsächlich dabei. Da in der Agenda für heute ja ein gemütlicher Ausklang am Lagerfeuer geplant ist, dachte ich, ein bisschen Musik könnte ganz nett sein".

"Ach wie schön, wenn sich auch unsere jungen Mitarbeiter so bei uns einbringen". Ich schlucke meinen Ärger über dieses herablassende Verhalten runter und lächle. Ob mich die paar Jahre Altersunterschied zu ihm wirklich zu einem 'jungen Mitarbeiter' machen?

Als er sich Andrea, unserer Praktikantin zuwendet und sie ebenfalls als 'junge Mitarbeiterin' anspricht, grinst Marco. "Mal sehen, wann er dieses Mal einen Handabdruck im Gesicht hat."

Das blecherne Klingeln aus einem Lautsprecher unterbricht uns und kündigt den nächsten Programmpunkt der Feierlichkeiten an.

Judith Bauer, Herrn Wagners persönliche Sekretärin und die gute Seele des Unternehmens, hat eine PowerPoint-Präsentation zur Huldigung unseres Chefs vorbereitet. Da Judith eine gutmütige, immer fröhliche Frau Mitte 50 ist, erwarte ich eine von Effekten und Farben überladene, wahrscheinlich mit Musik hinterlegte Präsentation. Und meine Erwartungen werden nicht enttäuscht.

Auf schwarzem Hintergrund hüpfen die Worte "Am Anfang war der Chef" ins Bild. Ich muss mir das Lachen verkneifen. Jetzt fliegen nacheinander Fotos aus den 1980er Jahren ins Bild, die einen dürren jungen Mann mit großer Brille im schlechtsitzenden Anzug zeigen. Auf der Baustelle. Im Büro. Auf einer Weihnachtsfeier. Neben seinem Vater, der unserem heutigen Chef erstaunlich ähnlich sah. Die Farben im Hintergrund der Bilder wechseln wie die Krawatten des Chefs und die Qualität der Bilder nimmt parallel zu seinem Bauchumfang zu. Wir sind in Zwischenzeit in den 90er Jahren angekommen. Als ich mich zurücklehne, flüstert mir Marco, der hinter mir sitzt, ins Ohr "ein bisschen wie diese Schwangerschafts-Bilderserien, mit dem wachsenden Bauch". Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee und muss mich zusammenreißen, nicht laut zu lachen.

MinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt