Kapitel 25

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Ich kam erst spät bei meinem Elternhaus an. Stundenlang war ich durch die laternenerhellten Straßen gelaufen, um irgendwie einen klaren Kopf zu bekommen.

Mittlerweile war es stockduster und mein Kopf immer noch ein Gewirr aus Ängsten, Sorgen und Hoffnungen.

Leise drehte ich den Schlüssel im Schloss. Meine Eltern gehörten mittlerweile zu der Generation, wo um halb zehn das Licht ausgemacht wurde und man sich ins Land der Träume verabschiedete.

Ich zog die Tür geräuschlos hinter mir zu und ging auf Zehenspitzen nach oben, wo ich noch immer mein altes Kinderzimmer hatte. Zu meiner Überraschung sah ich, dass dort Licht brannte. Ich öffnete die Tür und erblickte meine Schwester auf meinem Bett sitzen. Im Gegensatz zu mir wirkte sie hellwach.

"Da bist du ja endlich", begrüßte sie mich mit einem versöhnlichen Lächeln. "Wie geht es Frida?"

Ich schämte mich dafür, dass ich sie für einen Augenblick vergessen hatte. Heute war so viel passiert, dass ich für einen Moment sogar verdrängt hatte, dass meine beste Freundin einen Autounfall gehabt hatte. Egoistisch wie ich manchmal war, hatte ich in den letzten Stunden nur meine eigenen Probleme im Kopf gehabt.

"Ganz okay. Sie wird wieder werden. Es ist zum Glück nicht so schlimm, wie wir zu Beginn befürchten mussten."
Madita atmete erleichtert aus.

"Das freut mich!" Dann klopfte sie neben sich aufs Bett. "Komm! Setz dich!" Ich war verwundert über ihre Friedlichkeit. Normalerweise war Madita immer auf Krawall gebürstet. Ich war mir nicht sicher, ob ich vertrauen sollte. Trotzdem nahm ich neben ihr Platz. Sofort hakte sich meine Schwester bei mir unter und lehnte sich an mich. Sie legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab.

"Weißt du noch, wie du mir früher immer Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hast?", fragte sie.

"Ja, Mama hat uns immer noch eine heiße Milch mit Honig gebracht und Papa hat uns die Lichterkette angemacht."

Madita kuschelte sich an mich und es erinnerte mich tatsächlich an Zeiten, in der wir ein richtig gutes Schwesternverhältnis hatten.

"Du warst für mich damals wie eine zweite Mutter", sprach Madita. "Als du mir damals die Geschichten vorgelesen hast, warst du selbst fast schon erwachsen. Du hast dich immer für mich verantwortlich gefühlt und dich gekümmert. Ich habe dich richtig vergöttert"

Es stimmte. Als sie noch klein war, hatte sie wie eine Klette an meinem Rockzipfel gehangen. Wenn sie sich das Knie aufgeschürfte, war sie zu mir gekommen und nicht zu Mama.

"Tja und dann kam die Pubertät", sprach ich die Wahrheit aus. "Und plötzlich hast du mich gehasst."

"Nein, das stimmt nicht. Ich habe dich nie gehasst. Ich war nur rebellisch", sagte sie mit einem leisen Kichern.
"Bist du immer noch", ließ ich sie wissen und stupste sie mit dem Ellenbogen an, woraufhin sie wie ein Huhn gackerte. Auch das erinnerte mich an fast vergessene Zeiten.

"Stimmt... Aber worauf ich eigentlich hinaus wollte: Du wirst eine tolle Mutter werden. Wirklich!"

Ich wusste, dass sie das nicht nur aus Nettigkeit sagte, sondern weil sie davon überzeugt war. Meine Schwester war nicht der Typ Mensch, der Dinge aus Höflichkeit tat.

"Danke", sprach ich dankbar, denn ich konnte momentan jeglichen Zuspruch gut gebrauchen.

Sie ließ sich nach hinten aufs Kissen fallen. Ich legte mich neben sie. Madita nahm meine Hand. Meine Finger waren vom Spaziergang noch ganz kalt, ihr jedoch angenehm warm. Es war schön, mal wieder so friedlich mit meiner Schwester in einem Raum zu sein. Ganz ohne Provokationen und Streits. Uns schien noch immer etwas zu verbinden und vielleicht konnte sie auch fühlen, dass mein Tag echt beschissen gewesen war.

"Der Geburtstag war nicht so, wie du ihn dir vorgestellt hast, oder?", fragte sie, als könnte sie in meinen Kopf schauen.

"Du hast ja keine Ahnung! Ich bin ehrlich gesagt froh, dass er endlich zu Ende ist", antwortete ich ehrlich.

"So schlimm?"

"Schlimmer! Glaube mir!"

Ich hatte gehofft, dass Finn mir im Laufe des Abends noch mal schreiben würde, doch das hatte er nicht getan. Zwischen uns herrschte Funkstille und das war das Schlimmste, das mir hätte passieren können.

"Das tut mir leid. Willst du darüber reden?"

Ich wollte am liebsten einfach nur noch vergessen.

"Nein, ist schon okay."
"Morgen sieht die Welt bestimmt wieder ganz anders aus."
Daran hatte ich zwar meine berechtigten Zweifel, aber ich ließ den Satz so im Raum stehen. Immerhin hatte der Tag einen versöhnlichen Abschluss gefunden.

Mein Handy begann zu klingeln. Sofort setzte ich mich ruckartig auf und zog mein Telefon aus der Hosentasche. Ich hoffte, dass es Finn war, doch eine unbekannte Nummer erschien auf meinem Display.

Ich bekam ein ungutes Gefühl. Um diese Uhrzeit konnte es nichts Gutes bedeuten, von einer unbekannten Nummer angerufen zu werden.

"Henderson, hallo?", meldete ich mich, während meine Hände schwitzig wurden.

"Guten Abend, bitte Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Friedrichs von der Kriminalpolizei. Spreche ich mit Ilvi Hendersen?"

Sofort versteifte sich mein Körper. Ich saß kerzengerade, meine Hände krallten sich nun ins Handy.

"Ja, das bin ich", bestätigte ich mit belegte Stimme. "Was ist passiert?"
Auch Madita hatte sich nun aufgerichtet, sah mich besorgt an und versuchte mitzuhören.

"Sie sind in der Augustenstraße 11 gemeldet. Zusammen mit einem Sebastian König?"

Was hatte das zu bedeuten?

"Ja, ich bin da noch gemeldet. Aber ich wohne dort im Moment nicht. Wir haben uns getrennt. Geht es Basti gut?"

"Das kann ich Ihnen leider nicht versichern. Es tut mir leid, aber wir haben eine Leiche gefunden, die eine Bankkarte von Sebastian König bei sich hatte. Die Person ist aus dem 25. Stock vom Havel Tower gesprungen und leider verstorben." Das Blut in meinen Adern wurde schockgefrostet. Ich hatte Basti doch erst vor ein paar Stunden noch gesehen. "Wir würden Sie bitten zu uns zu kommen, um uns bei einer Identifizierung zu helfen."

Ich schluckte schwer. Ich musste Träumen. Das musste ein Alptraum sein. An einem Tag konnte nicht so viel Schlimmes passieren.

"Okay", war alles, was ich noch hervorbringen konnte. "Kann ich sofort vorbeikommen?"

Mein Flug ging morgen Vormittag, doch vor allem brauchte ich sofort Gewissheit. Ich würde kein Augen zubekommen, bevor ich nicht wusste, was geschehen war.

"Ja, es ist noch jemand da. wenn es Ihnen nicht zu spät ist, können Sie gerne noch heute Abend vorbeikommen. Kommen Sie doch bitte zur Magdalenenstraße 6."

Das zwar nur fünf Minuten zu Fuß von hier.

"Ist gut. Ich bin gleich da. Das ist nicht weit weg von mir."

"Danke, Frau Hendersen!"
Ich legte auf und sah hilfesuchend zu Madita.

"Du hast mitgehört, oder?"

Sie nickte, ähnlich blass wie ich es vermutlich auch war.

"Er hat sich von einem Haus gestürzt", fasste ich die Kerninformation des Gesprächs zusammen, um es irgendwie zu begreifen.
"Vielleicht ist er es auch gar nicht."

"Madita, sie haben seine Papiere bei der Leiche gefunden. Warum sollte jemand anderes seine Bankkarte bei sich haben?"

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Basti und ich waren nicht im Guten auseinander gegangen. Aber uns verbanden viele gemeinsame Jahre. Ich empfand immer noch Liebe für ihn.

Er hatte heute erzählt, dass er sogar noch beim Psychologen gewesen war. Was war das für ein Psychologe, der nicht einmal verhindern konnte, dass sein Patient sich weniger Stunden später vom Dach schmiss?

Oder war ich vielleicht der Grund? Hatte unsere heutige Begegnung ihn dazu gebracht?

"Ich komme mit dir mit", sagte Madita entschlossen und stand auf. "Wir stehen das zusammen durch. Du bist nicht allein!" Sie reichte mir ihre Hand, um mich vom Bett hochzuziehen. Zögernd nahm ich sie an. Ich brauchte Gewissheit und gleichzeitig hatte ich genau davor Angst.  

Me and my damn LifeWhere stories live. Discover now