Poseidons Segen

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Der Sandstrand glitzerte in der Morgensonne und lud Mensch wie Tier dazu ein, den Beginn des neuen Tages zu genießen. Die kleine Bucht war von Palmen voller Kokosnüsse umrandet, die eine leckere Erfrischung versprachen. Bereits zu dieser frühen Stunde war alles voller Leben. Möwen zogen ihre Kreise am Himmel oder pausierten auf den dichten Palmen, Delfine sprangen freudig aus dem Wasser und Schildkröten und Krabben hinterließen ihre Spuren im Sand.

Weinen durchbrach die idyllische Atmosphäre, überschallte sogar das Meeresrauschen. Einige Möwen stoben erschrocken auf und eine Schildkröte hob neugierig den Kopf, um die Ursache des Geräusches zu finden. Diese war schnell entdeckt: eine kleine Wasserfee saß an eine Palme gelehnt. Die Beine angezogen und die Hände vor das Gesicht gepresst, vergoss sie bittere Tränen, gefolgt von herzzerreißenden Schluchzern.

Zuerst schien keine Hilfe für die Fee in Sicht, doch nach wenigen Minuten fasste sich eine kleine Krabbe ein Herz und lief geschwind auf das blonde, zarte Wesen zu. An ihrer Seite blieb sie stehen und klapperte mit ihren großen Scheren, die so gar nicht zur Größe des kleinen Körpers passen wollten. Die Fee bemerkte das Schalentier erst nicht und versank weiterhin in ihrer Traurigkeit. Doch die Krabbe war nicht bereit so schnell aufzugeben. Mit einer Schere ergriff sie vorsichtig das ozeanblaue Kleid und zog daran. Nun zuckte das Feenwesen zusammen und löste die Hände vom Gesicht, um sich verwundert umzusehen. Als sie das winzige Krustentier bemerkte, runzelte sich ihre Stirn.

"Moin, ming Deern. Wat los?" Ein letzter Schluchzer entfuhr ihr, bevor die junge Fee sich die Tränen vom Gesicht wischte. Ihre hellen, blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und die nackten Füße im warmen Sand vergraben.

"Hallo Herr Krabbe. Ich bin so traurig und weiß nicht, was ich tun soll." Die grauen Augen füllten sich erneut mit Tränen.

"Abä, abä. Dann snack doch mal, wat los is. Und Herr Krabbe is mein Vadder, ich bin Paul." Die Schere löste sich vom Kleid der Fee und die kleine Krabbe machte es sich in einer Mulde im Sand gemütlich.

"Danke Paul. Mein Name ist Katie und ich soll die Wasserfee für diese Bucht werden. Deshalb habe ich bald eine Prüfung, wenn meine Probezeit vorbei ist. In der Elementar-Feen-Schule hatte ich immer gute Noten, aber jetzt habe ich Angst. Vor praktischen Prüfungen bin ich immer total nervös. Wie soll ich das bloß schaffen?"

Paul kratzte sich mit der Schere über den Panzer. Seine Augen wackelten nachdenklich zur Seite.
"Nun, ming Deern. Zeich mir doch mal, wat de kannst. Vielleicht brauchst du Dösbaddel da gar kein Gedöns drum machen."
Verwundert betrachtete Katie das Krustentier. Sie blinzelte mehrfach, stand dann aber entschlossen auf und klopfte sich den Sand von ihrem Kleid. Ihr Füße hinterließen tiefe Spuren im Sand, als sie sich zum Wasser begab. Paul sah ihr kurz hinterher, entschloss sich dann aber, ihr zu folgen und machte sich so schnell auf den Weg, wie ihn seine vielen Beine trugen. Vor der Brandung stoppte er und klapperte aufgeregt mit seinen Scheren.

"Gut Paul, dann mach dich bereit." Katie stand bis zu den Knien im warmen Wasser. Langsam schloss sie die Augen und faltete die Hände vor der Brust. Paul konnte fühlen, dass sich etwas im Meer regte. Ohne sichtbare Vorwarnung schoss eine Flutwelle an den Strand und durchnässte den kleinen Krabbenkörper vollständig. Als sich das Wasser wieder zurückzog, war ein Teil des Strandes mit Seetang und Algen bedeckt, die in der Sonne dunkelgrün und schwarz schimmerten. Paul kroch mühsam unter einer besonders dicken Schicht der Pflanzen hervor.

"Himmal, Arsch und Zwirn! Na dat nenn ich mal Motivation. Hasse nicht vielleicht ein büsschn übertrieben?", jammerte er, während er seine letzten Beine aus den Algen befreite. Katie sah ihn traurig an.

"Meinst du? Das war eine Reinigungswelle. Von Zeit zu Zeit ist es notwendig den abgestorbenen Seetang zu entsorgen, da er sonst die Wasserqualität zu stark beeinträchtigen würde. Somit hätten die hiesigen Lebewesen große Schwierigkeiten." Während ihrer Erklärung hatten sie den Zeigefinger erhoben und trat langsam wieder aus dem Wasser heraus. Kleid und Haare waren auf wundersame Weise trocken geblieben. Paul betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Es klang gut und richtig, was die Fee da von sich gab. Er selbst war natürlich nie auf einer Elementar-Feen-Schule gewesen, doch es klang ihm zu sehr danach, als wäre es einfach auswendig gelernt.

"Abä, ming Deern, dann mussu doch nich direkt die volle Möhre rauswummern. Versuch dat doch ma mit nem büsschen Gefühl. Sonst ham die Lebewesen Probleme, weil sie einfach wechjeschwemmt werden." Zur Bekräftigung seiner Worte schnippte er langsam mit einer seiner Scheren. Katie seufzte und setzte sich neben das Schalentier auf den Algenteppich, der nun einen Teil des Strandes unter sich begrub. Die Arme hinter sich in den Sand gestemmt, blickte sie in den Himmel hinauf und genoss die sanfte Brise, die gerade aufzog.

"Danke für deine Hilfe. Jetzt muss ich aber erst einmal eine Pause machen. Meine Energie-Reserven sind noch nicht sonderlich hoch. Ich muss mich ausruhen, bevor ich erneut einen Zauber wirken kann." Paul lachte herzlich und tapste wild mit seinen Beinen herum.

"Na dat soll ja nu keine Hürde sein. Machen wir es uns einfach ein büsschn am Stand gemütlich. Dazu ein großer Proteineistee und dann is dat Ding geritzt." Nun war es an Katie, zu lachen. Die offenherzige Art der Krabbe begeisterte sie und in ihr machte sich langsam das Gefühl breit, dass sie die Prüfung tatsächlich würde bestehen können.


Einige Tage waren vergangen, seit Paul beschlossen hatte der Wasserfee zu helfen. Ihre Magie machte wirklich große Fortschritte. Sie konnte bereits mehrere kleine Zauber vollbringen, ohne sich vollkommen zu verausgaben und Paul war sich vollkommen sicher, dass es nicht nur an der Unterstützung seinerseits, sondern auch an dem Geheimrezept für seinen Proteineistee lag, den die junge Fee jeden Tag zu trinken gezwungen war.

An diesem Morgen trafen sie sich entgegen ihrer Routine ein wenig später, da Paul am Vorabend ein romantisches Treffen mit einem netten Krabberich gehabt und daher um diesen Aufschub gebeten hatte. Katie war jedoch durch den Erfolg der letzten Tage bis in die blonden Haarspitzen motiviert und begann bereits ohne seine Hilfe zu üben.
Heute wollte sie das erste Mal versuchen eine Reinigungswelle zu erzeugen, ohne dabei selbst im Wasser zu stehen. Ein Zauber ohne Berührung stellte eine große Herausforderung dar, die sie unbedingt meistern wollte, um bei der Prüfung zu beeindrucken. Also stellte sich die junge Fee nicht wie sonst ins Wasser, sondern an den Strand. Sanft vergrub sie ihre nackten Füße ein paar Millimeter im Sand und faltete die Hände erneut vor der Brust. Grade als sie die Augen schließen wollte, um sich auf den Zauber zu konzentrieren, durchbrach ein lautes Krächzen die sanfte Stille. Sie zuckte zusammen, als eine Möwe versuchte auf ihr zu landen. Erschrocken wollte sie den Vogel vertreiben, indem sie wild mit den Armen ruderte, doch dieser ließ einfach nicht locker. Wütend flatterte das Federvieh um Katie herum und zupfte mit dem Schnabel an ihren Haaren und ihrem Kleid.

Hilflos versuchte die Fee ihr Gesicht vor dem Angreifer zu schützen, schloss die Augen und stieß einen schrillen Schrei aus. Dann erhob sich ein Geräusch, welches selbst das wilde Kreischen der Möwe übertönte. Ein tiefes Grollen schwoll im Meer an und eine riesige Flutwelle überspülte Katie mitsamt der Möwe. Als das Wasser sich ebenso schnell wieder zurückzog setzte das geflügelte Wesen erneut dazu an, sich auf die Wasserfee zu stürzen. Doch dieses Mal half keine Welle Katie dabei sich zu schützen, sondern etwas kleines, rotes, das über den Strand geflitzt kam.

"Mach dich fott, du Federvieh. Lass ming Deern in Ruh!" Paul brüllte aus Leibeskräften, doch die Möwe schien ihn gar nicht zu bemerken. Sie fuhr einfach in ihrem Gezeter fort. Die Fee jedoch war innerlich höchst erfreut, dass ihr Freund zu ihrer Rettung eilte. Tief in ihrem Inneren konnte sie selbst in solch einer Situation eine Glückseligkeit spüren, die sie nicht erwartet hatte.

Dann begann die kleine Krabbe in einem hellen Schein leuchten. Sie schwoll an, wurde immer größer und größer. Innerhalb von Sekunden hatte der Panzer den Umfang einer Riesenmuschel erreicht. Die Scheren konnten sich durchaus mit der Größe eines ausgewachsenen Aals messen und glänzten in einem dunklen Rot. Paul selbst schien seine Veränderung erst gar nicht zu bemerken und flitzte nun umso schneller auf Katie zu, die noch immer von der Möwe gepeinigt wurde. Ihre Arme waren bereits mit Schrammen versehen und einige Haarbüschel waren ihr ausgerupft worden.

Wütend schnappte Paul mit einer Schere nach dem Federvieh, erwischte die Schwanzfedern und als sich die Möwe befreien konnte, flatterte sie etwas unkontrolliert in den Himmel. Zurück blieben drei große Federn, die sich fest in Pauls Griff befanden. Mit dem anderen Arm winkte er drohend dem Vogel hinterher, während er fluchte.

"Wenn du Schnapsdrossel dich noch einmal an dat Mädel wagst, rupf ich dir alle Federn einzeln aus!" Erst danach blickte Paul auf die Fee und stockte in seiner Bewegung. Die drei Überbleibsel der Möwe schwebten sachte auf den Boden, als er versuchte zu realisieren, was sich verändert hatte. Wo er bisher hinauf blicken musste, konnte die riesige Krabbe nun auf Katie herab sehen. Hektisch besah er sich selbst und besah sich dann seine Umwelt. Zuerst dachte er, Katie wäre geschrumpft, doch als er merkte, dass er nun auch die Sträucher und Farne am Rand des Strandes überragte, kam ihm in den Sinn, sich selbst zu betrachten. Sich noch immer die lädierten Arme reibend, beobachtete ihn nun auch die künftige Wasserfee der Bucht genauer.

"Paul? Bist du das?" Ihre Stirn legte sich in Falten und sie näherte sich ihm. Er wusste nicht genau, was passiert war, sondern konnte sich nur an eine starke Wut erinnern. Sie hatte ihn vollkommen in ihren Bann gezogen und dann waren seine Gefühle explodiert. All die Tage lang hatte er sich mit Katie angefreundet und sie war ein so wundervolles Gemüt, dass er es nicht ertragen konnte, wenn sie leiden musste. Erst Recht nicht durch diese blöden Flatterviecher!

"Ja, aber frach mich bidde nich, wat hier grad passiert is." Pauls riesige Augen wackelten aufgeregt hin und her, während er versuchte, Katie nicht mit einer seiner Scheren um zu schubsen. Die junge Fee kam mutig auf ihn zu, streichelte sanfte mit einer Hand über seinen Panzer und grinste.

"Vielen Dank, dass du mich beschützt hast! Das bedeutet mir sehr viel." Ihre Stimme war kaum mehr, als ein Flüstern. Paul wollte etwas erwidern, doch ein Lachen hinderte ihn daran. Beide sahen sich hektisch um. Der Ursprung des Geräusches entpuppte sich als Frau, die mit Flügeln, so groß wie Katie, von einer Palme zu ihnen herunter geschwebt kam. Ihr langes, grünes Kleid bewegte sich dabei leicht in der Sommerbrise. Als sie neben Katie und Paul im Sand landete, hielt sie einen dünnen Stab in die Höhe.

"Katie von den Wasserfeen, es ist mir eine Freude dich kennen zu lernen. Und dich natürlich auch, Paul." Die Angesprochenen waren zu irritiert, um etwas erwidern zu können, daher fuhr die Fremde fort. Eine große, runde Brille rutschte ihr dabei fast von der Nase, doch sie schob sie fix wieder zurecht, bevor sie Paul eingehend musterte.

"Nun, dies ist wirklich erstaunlich. So etwas habe ich schon seit einigen hundert Jahren nicht mehr gesehen. Sehr erstaunlich. Wirklich erstaunlich." Ihr akkurate Hochsteckfrisur war von einem hellen Blond und sie betrachtete das Krustentier weiterhin interessiert.

"Darf ich fragen, wer sie eigentlich sind?" Katie hatte ihre Verwirrung abgeschüttelt und ergriff die Initiative. Auch wenn sie von dem Angriff der Möwe noch etwas zerzaust war, wollte sie doch trotzdem die Situation klären.

"Oh meine Liebe, aber natürlich! Das hätte ich ja fast vergessen, verzeiht!", lachte die Frau und deutete eine Verbeugung an. "Mein Name ist Karin. Ich bin die zuständige Prüfungsfee für alle Naturbeschützer in diesem Land."

Katie rutschte das Herz in die Füße. Ihre Prüfungsfee? Sie hatte doch erst in einigen Tagen den Termin, wieso war sie dann bereits hier? Und nach diesem Schlamassel konnte sie ja sowieso alles vergessen. Wenn Karin alles mit angesehen hatte, dann wusste sie ja, dass Katie komplett versagt hatte. Sie seufzte.

"Hallo, ich bin Katie. Und das ist..." Weiter kam sie nicht, denn Karin unterbrach sie.

"Aber natürlich weiß ich, wer das ist. Ich beobachte euch schon seit einigen Tagen, damit ich mir ein besseres Bild deiner Fähigkeiten machen kann, als nur am Prüfungstag. Junge Feen haben die Angewohnheit oft so furchtbar nervös zu werden." Sie lächelte Katie freundlich an. Die Lachfältchen an ihren Augen zeigten, dass sie des häufiger tat. "Allerdings ist es höchst ungewöhnlich, dass solch eine kleine Krabbe den Segen Poseidons erhält."

"Wadde mal. Den was?", beschwerte sich Paul lautstark und erhob sich zu voller Größe.

"Den Segen Poseidons natürlich. Habt ihr etwa noch nie davon gehört?" Nun war es an der Prüfungsfee irritert auszusehen, denn Paul und Katie schüttelten energisch die Köpfe.

"Zugegeben, es passiert selten, doch wenn sich eine Elementar-Fee mit einem Naturwesen anfreundet und das Band zwischen ihnen so stark wird, dass es selbst einer großen Bedrohung von Außen stand hält, dann gewährt Poseidon manchmal seine Gunst. Diese kann sich in verschiedenen Arten zeigen, doch meistens wird das Naturwesen besonders stark und mächtig genug, um die Fee beschützen zu können." Sowohl das Krustentier, als auch die kleine Fee hatten von dieser Macht noch nie gehört.

"Aber, heißt das, dass ich jetzt so bleibe?" Pauls Stimme zitterte ein wenig. Er fühlte sich unsicher, doch Kate legte ihm eine Hand auf die Schere.

"Ach Herzchen, das liegt ganz bei dir. Konzentriere dich auf das, was du wirklich willst und Poseidons Segen erledigt den Rest." Karin hatte ihren Stab gesenkt. Hier war keine Magie oder Zauberei nötig, sondern viel Gefühl und Verständnis. Paul überlegte kurz.

"Ich möchte Katie beschützen!", rief er laut und fügte hinzu: "Aber ich möchte auch mein Leben normal weiterleben." Kaum hatte er diese Wort ausgesprochen, begann sein Körper erneut in einem gleißenden Licht zu glühen. Er schrumpfte wieder auf seine originale Größe zusammen, behielt aber noch eine Weile das Leuchten.

"Und was bedeutet dies nun?" Ihre eigenen Sorgen vergaß Katie in diesem Moment vollkommen. Es ging ihr nur darum, dass ihr Freund wieder glücklich wurde.

"In dieser Form kann er sein normales Leben weiterführen. Sofern es jedoch nötig sein sollte, braucht er sich nur an Poseidons Kraft in ihm zu erinnern und dann wird ihm der Segen erneut gewährt. Eure Bindung ist wahrlich stark." Die Prüfungsfee sah durchaus beeindruckt aus und wandte sich an Katie.
"Und nun zu dir, junge Dame." Ihr Tonfall lies Katies Herz noch tiefer sinken. Aus ihrem unguten Gefühl wurde richtige Angst. Sie wollte nicht weg von hier. Nicht weg von Paul und dieser wundervollen Bucht mit all ihren Lebewesen. Selbst von den Möwen nicht. "Ich denke, ich habe genug gesehen. Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung!" Katie benötigte einen Moment, um zu realisieren, was soeben geschehen war. Dann brach die Freude aus ihr heraus und sie umarmte ihre neue Lieblings-Prüfungsfee stürmisch.

"Siehste, wat hab ich dir jesacht? Ming Deern macht dat schon." Vor lauter Glückseligkeit griff Katie in den Sand, hob Paul hoch und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf den Panzer.

"Danke mein Freund.", flüsterte sie leise.


Und so kam es, dass eine kleine Wasserfee und ihr roter Freund über die Bucht hinaus bekannt wurden. Warum, fragt ihr euch? Nun, sobald das Gespann erfuhr, dass sich ein Wesen in Not befand, eilte es sofort zu Hilfe. Sogar den Möwen. Und wer vergisst schon eine Fee, die auf einem Riesenkrebs reitet?

Poseidons SegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt