20.09.2016

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Wesley

»Hey, Quinn.« Ich lehne mich nach vorne und steche meinem Vordermann mit dem Bleistift in den Rücken. Dabei sind meine Augen auf die Lehrerin gerichtet, die irgendwelche Daten an die Tafel schreibt und über die Unabhängigkeitserklärung der USA.

»Nicht jetzt, Wes!«, flucht der Junge vor mir und wedelt mit der Hand, um meinen Stift wegzubekommen, während er sich auf die Tafel konzentriert.

»Quinn«, fordere ich ein weiteres Mal, ramme den Bleistift an seiner Hand vorbei in sein Schulterblatt.

»Verdammt!« Der Fluch ist so laut, dass ich mich eilig zurückfallen lasse und so tue, als würde ich brav die Sachen der Tafel abschreiben. Ms. Miller wirbelt auf der Stelle herum und fixiert meinen Vordermann, der ertappt sitzen bleibt.

Anfänger.

»Kann ich dir weiterhelfen, Quinn?«, wendet die Lehrerin sich mit aufmerksamem Blick an den Jungen, der ein gestottertes Nein hervorbringt. Ich an seiner Stelle hätte die Frage vor der gesamten Klasse an mich weitergeleitet. War immerhin wirklich meine Schuld. Aber dafür war er noch nie der Typ.

»Dann darf ich meinen Unterricht forsetzten?«, fährt Ms. Miller mit strengem Blick fort und wartet das schüchterne Kopfnicken von Quinn ab, ehe sie ihren Monolog fortsetzt. Ein paar Minuten warte ich ab und tue so, als würde ich ihr wirklich zuhören. Dann findet der Bleistift erneut den Weg in Quinns Rücken.

Diesmal unterlässt er eine wütende Äußerung und wartet stattdessen einen Augenblick, bis er sich zu mir dreht.

»Du hast zehn Sekunden«, erklärt er, linst ein weiterres Mal zu der Lehrerin, die hochkonzentriert auf ihre Notizen schaut, während die Kreide parallel über die Tafel gleitet.

»Was weißt du über die Neue?«

»Welche Neue?«, wispert er verwirrt zurück.

Die, die mich fast überfahren hat.

»Dieses blonde Mädchen, das mit Debbie und Hailey rumhängt«, sage ich stattdessen.

Ist sie mir ein paar Mal auf dem Flur über den Weg gelaufen?

Ja.

Habe ich sie angesprochen?

Nein.

Muss ich trotzdem an sie denken?

Ja, und das nervt mich wahnsinnig.

»Ach, die meinst du«, murmelt Quinn. »Keine Ahnung, ich habe nicht mit ihr gesprochen.«

»Verarsch mich nicht. Du bist die Tratschtante unter den Jungs.«

»Das ist eine Beleidugung«, erwidert er empört.

»Was weißt du?«, wiederhole ich energisch.

Langsam werde ich ungeduldig. Seit Freitag warte ich darauf, dass ich Quinn vor mir sitzen habe und ihn ausfragen kann. Quinn verdreht die Augen, wirft erneut einen Blick über die Schulter.

»Sie ist mit ihrem Vater aus Denver hergezogen. Er ist wegen einer neuen Professur hier. Über die Mutter weiß ich nichts.«

»Super, und wie heißt sie?«

Kann er nicht einfach auf den Punkt kommen?!

»Mr. Coon!« Mein Name schallt laut durch die Klasse und lässt mich zusammenzucken. Alle Augen sind auf mich gerichtet, als ich mich von Quinn löse und zu unserer Lehrerin schaue, die alles andere als erfreut aussieht. »Wie kann es sein, dass du meinen Unterricht störst, nachdem du am Freitag schon zu spät warst?«

»Entschuldigung«, presse ich mit einem höflichen Lächeln hervor.

Mit eisiger Miene fixiert sie mich.

»Raus,«

»Ms. Miller!«, protestiere ich, doch sie hebt nur bestimmend die Hand und deutet auf die Tür.

»Wir können nach dem Unterricht darüber diskutieren, ob du noch eine Strafarbeit bekommst.« Ein überfreundliches Lächeln ziert das Gesicht der jungen und viel zu strengen Lehrerin.

Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, wenn ich mich nicht noch mehr Chaos haben will. Daher schnappe ich mir den Rucksack und klemme mir Buch und Notizblock unter den Arm. Unter den gaffenden Augen meiner Mitschüler durchquere ich die Klasse und will gerade die Tür öffnen, als diese aufgleitet.

Und ich versinke wieder in diesem hübschen Gesicht, das mit den schönsten Augen verziert ist, die ich je gesehen habe.

»June!«, ertönt es hinter mir und ich spüre, dass ich einen Schritt zur Seite mache.

»Tut mir leid«, beginnt June und ihre Wangen färben sich rosig, was mich fast lächeln lässt. Bei unserer ersten Begegnung war sie knallrot vor Scham.

Und ich war irgendwie hin und weg.

»Ich habe das Klassenzimmer nicht gefunden«, fährt sie fort und löst den Blick von mir, während ich die blonden Haare betrachte, die ihr auf die Schultern fallen.

»Kein Problem«, winkt Ms. Miller ab, ehe Sie sich an die Klasse wendet. »Das ist June Boye, ich möchte, dass ihr sie herzlich empfangt und eure Mitschriften mit ihr teilt«, verkündet sie der Klasse durch die ein aufgeregtes Raunen geht.

»Es ist gerade ein Platz freigeworden. Sie können sich da hinsetzten«, fügt sie leise an June gewandt hinzu und deutet auf meinen ehemaligen Sitzplatz. Ich folge dieser Bewegung, bis ich wieder zu Ms. Miller blicke, die mich mit einem wirklich bösartigen Ausdruck ansieht.

»Wesley«, mahnt sie mich und ich reiße abwehrend die Hände in die Luft.

»Bin schon weg«, ergebe ich mich und verlasse das Klassenzimmer.

Als ich die Tür schließe, erhasche ich einen letzten Blick auf das Mädchen.

Nett, dich kennenzulernen, June Boyce.

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