"Anke, meine Nichte (er deutete mit dem Kopf zu dem Mädchen hinüber, das sich nun aufgebracht dem Griff des Jungen zu entziehen suchte), also die hat mir ja nicht allzu viel erzählt. Ich weiß bisher nur, dass ihr etwa eine Woche auf der Blauortinsel verbringen wollt. Warum eigentlich dort?! Durch den neuen Versuchsleuchtturm gibt es in dem Haus wohl Strom und alles, aber ... was wollt ihr eigentlich die ganze Zeit dort machen?"  

Er sah ihn kurz mit fragend gerunzelter Stirn an. 

"Sie, also das heißt, die Eltern von den sechs kamen auf mich, da ich jetzt sowieso eine Woche freihabe und einen Kleinbus fahre", beantwortete Dietrich zuerst nur die erste Frage. 

"Na und? Ihr hättet trotzdem eine erholsamere Art finden können, eure Ferien zu verbringen, oder?! Wie alt sind Sie eigentlich? 21?" 

"22", berichtigte Dietrich. "Es ist so. Ich studiere im Augenblick und meine Eltern bezahlen mein Studium. Deswegen, ... bin ich ja halt eben etwas in ihrer Schuld. Außerdem ist es vielleicht ja auch einmal ganz nett, eine Woche auf einer einsamen Insel zu sein, ohne Regeln und SO ..." 

Ich hätte jetzt eigentlich erwartet, dass Ankes Onkel irgendwie reagiert hätte, sei es, dass auch er zugegeben hätte, dass es als Junge mal von so etwas geträumt hatte, oder etwas Ähnliches, aber nicht desgleichen geschah. Er nahm nur die schon fertig gestopfte Pfeife, die griffbereit neben dem wuchtigen Steuerrad lag, steckte sie sich in den Mund und nahm dann dankend das schon von Dietrich fertig entzündete Streichholz entgegen. Nachdem sich die dicken, schwer riechenden Wolken etwas verzogen hatten, erklärte er fast zusammenhanglos: "Bisher sieht es ja noch aus, als ob das Wetter auch weiterhin noch so gut bliebe, aber genau kann man das in diesen Breiten ja nie sagen! Ich halte es nicht für sehr klug, die Kinder auf die Insel abzuschieben, nur weil die Herren und Damen Eltern gerade gerne ihre archäologischen Kenntnisse auf Kosten des Instituts in Ägypten zu erweitern gedenken!" 

"In Kreta." berichtigte Dietrich. Eigentlich hätte er jetzt Ankes Onkel entschieden widersprechen müssen, doch das Dumme war ja gerade, dass er recht hatte! Die Kinder waren ja eigentlich wirklich abgeschoben worden. Da der Kapitän und Besitzer der Insel und des sich darauf befindlichen Hauses, zu dem sie jetzt aber trotz allem unterwegs waren, anscheinend keine Antwort zu erwarten schien, erhob er sich, murmelte etwas, was wie ‚Ich muss mal nachsehen, ob alles Okay ist.' klang und verließ die warme und schützende Kabine, den Kragen seines blauen Mantels hochschlagend. 

Wäre das Wetter etwas besser gewesen, so hätte ein mit einem genügend starken Fernglas ausgerüsteter Beobachter die etwa sechs Kilometer vor der Schleswig-Holsteinischen Küste gelegene Insel schemenhaft ausmachen können, doch, wie zumeist in diesen Breitengraden, war dies auch heute nicht möglich und er hätte nur ungefähr erahnen können, wo sie sich befand, diese kleine, unwegsame, mit Steinen übersäte Insel, die tapfer den tagein, tagaus, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert über sie hereinbrechenden Gewalten der Natur standhielt, wie eine alte, verkrüppelte Eiche, die, hoch in den Bergen, wo eigentlich keine Eiche mehr hätte sein dürfen, tapfer standhielt, Sturm und Schnee und menschlicher Logik zum Trotz. Die schweren Stürme der letzten Jahre, die über die Insel hinweggedonnert waren, hatten ihr schwer zu schaffen gemacht. Die alte Ruine des Wagemutigen, der schon vor vielen Jahren versucht hatte, auf ihr Schafe zu züchten, war lautlos und unbemerkt in sich zusammengefallen, doch wen störte es. Die viel gepriesene Zivilisation war, mit ihrem alles in Anspruch nehmenden, verändernden und zerstörerischen Wesen, über sie hereingebrochen und hatte dem einzigen, noch intakten Haus zu elektrischen Strom und der Insel zu einem Versuchsleuchtturm mit eigenem, kleinen Gezeitenkraftwerk verholfen, um sich dann wieder verächtlich zu erheben und sie schnell wieder hinter sich zurückzulassen. Herr Gumbold hatte sich schon ziemlich gewundert, als die klugen Wissenschaftler ihm eine andere Karte unter die Nase hielten, als die, die er immer in einer Schublade in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Nicht minder erstaunt war er gewesen, als ihm die Herren, die von irgendeinem Institut gekommen waren, dessen Namen ihm wieder entfallen war, den Vorschlag unterbreiteten, einen Leuchtturm auf seiner Insel aufzubauen und dafür als Entschädigung das Haus gleich mitzurenovieren und es an das Kraftwerk anzuschließen. Erst hatte er noch gezögert, doch schließlich gab es nicht genug überdrehte Großstadthalbleichen, die sich in völliger Einsamkeit bei höchstem Großstadtkomfort von ihrem Alltagsstress erholen wollten?! Schließlich gab es hier ja wirklich Einsamkeit in Hülle und Fülle! 

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