Band 2 - 1. Kapitel

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Vom Wind getragen über Berg und Tal hallte der liebliche Gesang durch die gepflasterten Straßen und durchbrach die fürchterliche Stille. Kein Vogellaut weit und breit. Kein Schnauben. Kein Getuschel. Keine Schritte. Verflucht wurde der Ort. Heimgesucht von böser Magie. Zurück bliebt eine Ruhestätte mit schützenden Mauern. Eine Verteidigung, die gegen finstere Mächte niemals standhalten konnte. Nur der Wind war mutig genug, zu pfeifen und den weiblichen Gesang im Lande zu verbreiten.

Die Kälte liegt wie eine schwere Schneedecke über Rebecca und kriecht erbarmungslos unter die Haut. Die Knochen steif und durchgefroren. Ihr Atem gefriert und wird sichtbar durch eine Dunstwolke. Noch immer heult der Wind. Unheilvoll, als warne er vor der nächsten Bedrohung. Die Sicht wird klarer und der Schock sitzt tief, als der Anblick vom gefrorenen Fleisch und Knochen die Übelkeit heraufbeschwört. Tote Stadtbewohner. Jung und alt. Erfroren.

Einige Anläufe sind von Nöten, um den schlafen Körper auf die Beine bringen. Alles in Rebecca protestiert und will sich zum Schlafen betten. Alles bis auf ihren Verstand. Der Langfinger weiß, dass ihr nur dieser einzige Versuch bleibt, dem eisigen Tod zu entkommen. Aufgeben kommt somit nicht in Frage. Bibbernd steht sie da, während ihre Augen nach Wärmequellen suchen. Der Anblick hingegen lässt sie erschaudern. In ihrem ganzen Leben waren die Straßen ihrer Heimat noch nie von solch einer Schönheit erfüllt. Es funkelt und glänzt und erinnert an ein Märchen. Objekte, ob Häuserwände, Zäune, Schilder, sogar ein Eimer sind überzogen von einer funkelnden Schicht. Der Gelbton des Kristalls erinnert an eine Zitrone und schließt damit aus, dass es sich hier um gewöhnliches Eis handelt. Die Farbe ist zu kräftig.

So schön der Anblick auch sein mag, der heulende Windzug wird ihr sicherer Tod sein. Rebecca braucht einen windstillen Ort. Sie muss weg von der Straße und da springt ihr das erstbeste Haus ins Auge. Für jeden Schritt muss sich Rebecca ermutigen. Noch immer klammert der Tod an ihr, säuselt ihr die Ohren voll, wie schön es doch wäre, sich einfach zur Ruhe zu legen. Nicht lange und sie würde keine Schmerzen mehr spüren. Es gäbe schlimmere Wege abzudanken. Der schwarze Schatten bleibt hartnäckig, lässt ihr immer wieder die Augen zufallen und vernebelt ihre Gedanken. Sich zu konzentrieren fällt Rebecca schwer. Als die Diebin zu stürzen droht und im letzten Moment ihren Fall verhindert, bleibt ihr Blick auf einen gelben Fußabdruck hängen, der von den seltsamen Kristallen umrandet wird. Spitz wie Berge zieht sich die Wände in unregelmäßiger Höhe hinauf. Der vertraute Geruch von Schwefel steigt dem Langfinger in die Nase und lässt sie an die Hexe Luela erinnern. Ständig trug diese böse Frau den Geruch an sich und verlor überall, wohin sie trat, eine Spur aus Schwefelpulver.

Es ist der eisige Wind, der ihre Gedanken unterbricht und sie daran erinnert, eins der Häuser aufzusuchen. Es sind nur wenige Schritte. Wenige Meter und doch kommt ihr die Strecke länger vor als die bisherige Reise mit dem Alchemisten. Völlig entkräftet lehnt sich Rebecca gegen die Tür und dankt dem Idioten, der vergessen hat, abzuschließen, als die Holzplatte zur Seite schwenkt und ihr Einlass in die gute Stube gewährt. Eine Mischung verschiedener Kräuter steigen ihr in die Nase. Zum Trocknen hängen diese über ihren Kopf und die kleine Küche erinnert die Diebin an ihr eigenes, bereits vergangenes Heim. Eine Erinnerung vor vielen Jahren, wo die Welt noch heil war und sie sorglos mit ihren Geschwistern Fangen spielte.

Rebeccas Finger fahren behutsam über die Arbeitsplatte beim Vorbeigehen. Wie damals hinterlassen sie eine Spur auf dem Mehl. Ein Echo der Vergangenheit holt sie ein und lässt sie innehalten, als die Gestalt ihrer Mutter erscheint. Hochkonzentriert knetet die Brünette den Teig zwischen ihren Fingern und wendet sich nur kurz von ihrer Tätigkeit ab, um mit ihren gütigen Augen das kleine Mädchen zu fixieren. Ein Lockenkopf wie die Mutter, nur mit dem Unterschied das ihre wilde Mähne in einem strengen Knoten versteckt wird und doch rebellieren einige Strähnen gegen die Frisur. Ein warmes Lächeln huscht der Frau über den Lippen, während sie sich das Mehl von der Schürze klopft, um hinter sich zu greifen. Dort, wo sie immer einen Teigfladen für ihre einzige Tochter zurückgelegt hat.

Kaum ist der erste Bissen getätigt, folgt ein dankbares Lächeln, das im nächsten Moment mit einem besorgten Blick tauscht. Bedrohlich erhellt ein warmes Licht die Räumlichkeiten und die Schatten der Einrichtung ziehen sich angriffslustig in die Länge wie ein Rudel Wölfe. Hungrig knabbert ein unkontrolliertes Feuer an den Dielen, den Möbeln und den Wänden. Funken fallen durch die Bretter der oberen Etage wie Schneeflocken. Rebecca erinnert sich an die Hitze, die Schreie und die Panik, die im und vor dem Haus ausgebrochen ist. Der Tag, an dem sie ihr Zuhause verloren hatte und auf der Straße landete.

Völlig entkräftet sackt die Diebin zusammen und lehnt sich müde gegen den Unterschrank. Obwohl die Vergangenheit sie einholt und solch einen schrecklichen Moment neu durchleben lässt, wie die Flammen sich über das Festmahl stürzen, ist es die Kälte, die sich wie ein Mantel um sie hüllt und ihre Glieder zum Zittern bringt. Ihre Finger spürt sie nicht mehr, die Atmung wird flach und obwohl sich der Ofen in Sichtweite befindet, fehlt ihr nun gänzlich die Kraft, erneut aufzustehen. Jede Bewegung schmerzt und die Beine verweigern den Dienst.
Die Schritte, die sich ihr nähern, verwechselt Rebecca mit dem Echo der Vergangenheit. Sie glaubt, die Geister führen das Theaterstück erneut auf, das ihr zu lange in der Kindheit zugesetzt hat. Umso größer ist die Verwunderung, als zwei Fremde neben ihr Halt machen. Die hochwertige Kleidung der beiden Männer weckt ihr Misstrauen. Zwei eisblaue Augen starren sie an und betrachten sie besorgt.
„Die hier könnte es schaffen", spricht er mit rauer Stimme zu seinem Kollegen. „Los, beeile dich. Sie ist bereits unterkühlt."
Der athenisch gebaute Kerl neben ihm holt eine Knolle und ein Messer hervor. Kaum gleitet die Klinge durch die Schale der Wurzel, kommt das gelbe Fruchtfleisch zum Schein.
„Was..." Das Sprechen fällt ihr schwer. Die Stimme ist schwach und wahrscheinlich zu leise für ihre Ohren und doch fordert Rebecca eine Antwort. „Was ist das?"
„Pssscht. Schone deine Kraft", spricht ihr Gegenüber sanft zu ihr und dreht sich zu seinem Kollegen, dem ein anderer Ton gilt. „Wirds bald?"
Dem Blauäugigen wird eine dicke Scheibe in die Hand gedrückt. Rebecca ahnt, was kommt und dreht ihren Kopf zur Seite. Sie ist nicht bereit, diesen Leuten zu trauen. Doch das hält den Kerl nicht davon ab, es erneut zu versuchen und schon steckt das seltsame Knollenstück in ihrem Mund. Ein Geschmack, der ihr fremd ist. Eine fruchtige Schärfe mit einem süßlichen Aroma. Nah an einer Zitrone und doch anders.

Bevor sie die widerliche Pampe ausspucken kann, wird ihr der Mund von ihrem Gegenüber zugehalten. Sein Kollege hat eine Wolldecke in kurzer Zeit aufgetrieben und legt diese nun um Rebeccas eisigen Körper. Durch die Knolle erwacht eine Hitze in ihr. Vom Magen aufwärts steigt die Temperatur kurz an. Geekelt schluckt Rebecca den Brei hinab und schüttelt sich. Zufrieden nickt der Fremde.
„Dein Kreislauf wird angekurbelt und dir wird es gleich besser gehen. Vertrau uns. Das Zeug hat unser Orden extra importiert. Nennt sich Ingwer. Ein kleiner Trick, den du im Kampf gegen die Hexe Jenara besser bei dir haben solltest. Die Frau ist eine wahre Naturgewalt. Gibt sich als sanftmütige und mitfühlende Person aus. Ein Trick, den ihr Charakter ist verdorben."

Rebecca mustert die beiden müde. Ihre dunkle Kleidung ist leicht, schnittig und ideal für den Kampf. Die polierten Knöpfe, allein das hochwertige Material und das gepflegte Äußere zeigen ihr, dass sie es mit keinen gewöhnlichen Stadtleuten zu tun hat. Gut bezahlte Profis - ohne Zweifel. Zu gewagt für einen Taschendiebstahl. Mal davon abgesehen, dass Rebecca in ihrer jetzigen Verfassung ihre Diebeskünste nicht mal annähernd ausführen könnte und doch das Einschätzen der Chancen eine ihrer Berufskrankheiten. Der andere Kerl mit den dunklen Augen und dem langem schwarzen Haar holt eine Beutelflasche hervor und hält ihr diese hin.
„Ist noch warm. Wenn wir dich vergiften wollten, dann hätten wir das schon längst getan."
Wohl wahr!

Rebeccas Finger brennen bei der Berührung mit dem erwärmten Leder. Der Verschluss ist bereits offen und so trinkt die Diebin einen Schluck des warmen Gebräus, das vertraut noch der Knolle schmeckt. Zwar nicht ganz so intensiv und doch reicht es, um ihr Gesicht zu verziehen. An diesen Geschmack wird sich Rebecca nie gewöhnen. Ihr Ausdruck bringt die beiden zu lachen. Der Beutel wird ihr entnommen und nun trinkt der Blauäugige einen Schluck und kurz darauf sein Kumpane.

„Lebst du hier?", wird sie gefragt.
Es folgt ein Nicken, woraufhin der andere seufzt. „Jetzt wohl nicht mehr. Das wars mit der Stadt. Hier hat kaum eine Seele überlebt und die Hexe ist uns auch durch die Lappen gegangen. Ärgerlich! Jenara macht uns ganz schön Arbeit!"
Neugierig blickt Rebecca auf und zum Glück findet sie ihre Stimme wieder. „Wer seid ihr eigentlich?"
„Ist das nicht offensichtlich?" Es folgt ein mildes Lächeln und ein Blick mit Stolz. „Wir sind Hexenjäger."

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