Ich stand ungefähr fünf Minuten vor der verschlossenen Tür der Abernathys und war völlig überfordert mit dieser Situation. Ratlos sah ich auf den Kirschkuchen in meinen Händen hinab. Was war gerade passiert?
Wir sind keine freundlichen Menschen und möchten nichts mit anderen Menschen zu tun haben.
Das hatte Mister Abernathy gesagt, bevor er mir die Tür vor der Nase zugeknallt hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es dämmerte und plötzlich kam mir das Haus und die Familie, die nun wohl darin lebte, gruselig vor. Dabei kannte ich sie nicht einmal. Schnell lief ich zum Haus meiner Großmutter zurück.
Man hörte nicht viel von den Abernathys. Am Sonntag verließen sie alle zusammen das Haus. Die ganze Familie war gut gekleidet und lief die Straße entlang zur Kirche. Sie verpassten nie einen Gottesdienst. Die Familie Abernathy bestand aus Vater, Mutter und zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Irgendwoher fand die nervige Mrs Kretschmer die Namen der Abernathys heraus.
Mister Abernathy, der mich ratlos vor der Tür hatte stehen lassen, hieß mit Vornamen Charles. Er war Anfang vierzig und von Beruf Anwalt. Mister Abernathy war immer tadellos gekleidet. Zur Arbeit trug er vornehme Anzüge und am Sonntag holte er einen besonders schönen Anzug zur Messe heraus. Die Abernathys kamen als Erstes und gingen als Erstes. Sie saßen in der letzten Reihe und sprachen nicht mit den anderen.
Ich begegnete den anderen Familienmitgliedern erst am Sonntag in der Kirche. Während alle sangen, betrachtete ich die Abernathys interessiert. Mister Abernathys Ehefrau war ungefähr im selben Alter wie er. Sie war schlank und sah ziemlich hübsch aus mit ihren blonden, langen Locken, den roten Lippen und den braunen Rehaugen. Ihre Haut war zart und blass. Im Gottesdienst trug sie ein blaues Satinkleid, einen Hut, hochhackige Schuhe und Perlenschmuck. Ich konnte meinen Blick nicht von der Frau abwenden und bemerkte erst, als sich alle zum Beten hinknieten, dass ich nicht bei der Sache war.
Schnell sank ich ebenfalls auf die Knie und warf einen Blick über die Schulter in die letzte Reihe. Mein Blick kreuzte sich mit Mrs Abernathys. Sie bemerkte mich und lächelte mir freundlich zu. Etwas unsicher lächelte ich zurück und versuchte mich wieder auf das Gebet zu konzentrieren.
Schon früher hatte ich bemerkt, dass ich Frauen, die älter waren, irgendwie attraktiv fand. In der Grundschule war ich in meine damalige Klassenlehrerin Miss Pietersen verliebt gewesen. Ich konnte nicht leugnen, dass ich auch Mrs Abernathy attraktiv fand. In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal seit langem nicht vom Krieg in Vietnam.
Ich träumte von ihr.
Die Abernathys hatten einen Sohn, der Robert hieß. Aber alle nannten ihn Bobby. Er würde nach dem Sommer in die Abschlussklasse kommen und war fast achtzehn. Ich erkannte sofort, dass er das schwarze Schaf der Familie war. Meine Großmutter hatte mir einen Anzug gekauft, den ich nun immer in der Kirche tragen musste, aber Bobby trug T-Shirt und Jeans. Sein Vater schien das gar nicht gut zu finden. Ich kannte das, schließlich war ich selbst das schwarze Schaf meiner Familie.
Meine Schwester Tiffany war immer das hübsche, ruhige und brave Mädchen gewesen, welches sich mit jedem gut verstand und gute Noten mit nach Hause brachte. Sie war beliebt und hatte bereits mit vierzehn ihren ersten Freund. Tiffany war der ganze Stolz meiner Eltern.
Überall hingen Bilder von ihr. Fanny war ihrem Geburtstag, bei einer Ballettaufführung, bei einem Footballspiel (sie war Cheerleaderin), beim Reiten, beim Klavierspielen. Meine Eltern redeten ständig von ihr.
Ich hingegen wirkte wie ein wandelner Misserfolg, schließlich trieb ich mich immer nur mit Michael rum, prügelte mich mit meinen Mitschülern, die mich wegen meiner Kleidung oder irgendetwas hänselten und schrieb schlechte Noten.

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Dollhouse| true crime
Short StoryClearwater Springs Eine perfekte amerikanische Kleinstadt in den siebziger Jahren. Die Abernathys Eine perfekte Familie in einem perfekten Haus, dem Puppenhaus, mit einem perfekten Leben, bis sie eines Tages ermordet werden.