Prolog

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Sie ist das Erste, das seine Aufmerksamkeit wirklich weckt.
Demir verliert den Spaß an Dingen nach wenigen Minuten, aber sie zu beobachten gehört nicht dazu.
Dieses blonde Mädchen mit den großen blauen Augen sitzt nun die ganze Woche jeden Nachmittag um sechzehn Uhr auf der Bank am Hügel und malt in das rosa Zeichenheft, das sie immer mitbringt.

Der Spielplatz ist riesig, ein richtiges Wunderland mit riesigen Rutschen, herausfordernden Klettergerüsten und Schaukeln, die bis in die Wolken reichen, und er hätte sie bestimmt niemals dort oben unter den Bäumen bemerkt, wenn sie nicht durch ihre schrille Kleidung auffallen würde.
Er glaubt, dass sie vor Montag nicht hier war. Das war der Tag, an dem er sie zum ersten Mal sah.
Er rannte im Sand, sah zufällig herüber und da stand sie. Mit einem riesigen pinken Hut auf dem Kopf, der links und rechts neben ihr noch weitere Kinder vor der Sonne geschützt hätte, wenn sich jemand zu ihr gewagt hätte.
Sie hat sich nach oben gesetzt, ihren Zeichenblock mit einem abgenutzten Stiftetui aus dem Rucksack genommen und angefangen zu malen. Kein anderes Kind ist zu ihr herübergegangen und sie ist nicht ein Mal zum Spielen aufgestanden.

Am Dienstag hat sie auch nicht enttäuscht mit der neonblauen Leggings, die in der Sonne glänzte und dem Haarreif mit den Katzenohren am Mittwoch. Sie hatte sogar ihre Nase schwarz angemalt.
Gestern waren es Beinstulpen mit gelben Blumen zu kurzen lila Shorts kombiniert und heute ist der Höhepunkt ihrer katastrophalen Outfits der Woche. Ein weißes Pailettenkleid, schon viel zu schick für den Spielplatz, doch das Augenmerkmal lenkt sie auf die pinken Socken im Zebrastreifen, die ihr bis auf die Knie reichen.

Sie sieht lächerlich aus und macht sich zu einer Witzfigur.

Demir hat schon gesehen, wie Kinder mit vorgehaltener Hand über sie gesprochen haben. Ja, sie kleidet sich fürchterlich, findet er, aber es braucht eine Menge Mut herauszustechen. Sie trägt diese Kleidung mit so viel Selbstbewusstsein, dass er nicht anders kann, als sie dafür zu bewundern.

Ob sie nächste Woche auch hier sein wird?
Er kann sich nicht erinnern sie letzte Woche gesehen zu haben. Was, wenn sie nie wieder mehr hier sein wird?
Er schaut zu seinen Freunden, die durch den Sand laufen und Fangen spielen. Sein Cousin ist ganz fokussiert darauf einzig die kreischenden Mädchen zu jagen und bemerkt es nicht einmal, als Demir auf den Hügel zugeht.

Sie hat diesen Spielplatz erst diese Woche entdeckt und sofort lieb gewonnen. Wenn man die Augen schließt, dann hört es sich an, als ob man im Freibad wäre. Hier ist es voller Leben und dennoch hat sie ihre Ruhe. Niemand traut sich zu ihr. Zumindest bis heute nicht.
Sie spürt sofort, als sich der Junge mit den dunklen Haaren und den noch dunkleren Augen neben sie setzt.
Sie hält mit dem Stift auf dem Papier inne und starrt ihre Figur einen Moment an, bevor sie den Kopf nach links dreht und ihn anschaut. Unverhohlen schaut er auf die Zeichnung.

„Das malst du also."
Ihre Augenbrauen schießen in die Höhe.
„Was?" Ein kleines Lächeln legt sich um seine Lippen und er deutet mit den Augen auf ihren Schoß.
„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was du malst.", erklärt er ihr und lehnt sich lässig zurück,„Ich wäre nicht darauf gekommen, dass es Männchen sind."
„Das ist eine Frau.", korrigiert sie ihn und legt den Stift an die Seite, um mit dem Finger auf ihre langen Haare zeigen zu können.
„Können Jungen etwa keine langen Haare haben?", hakt er nach und legt den Kopf schräg. Stockend schaut sie von ihm zurück zu der Figur.
„D-Doch. Aber das ist trotzdem eine Frau."

Er rückt etwas näher an sie und nimmt einen blauen Stift in die Hand, um über das Papier zu zeichnen. Erschrocken schnappt sie nach Luft und sieht den frechen Jungen an, der nicht nach Erlaubnis fragt.
„Das ist meins!", ruft sie entsetzt aus.
„Na und? Ich helfe dir nur."
„Ich brauche keine Hilfe!" Er wiegt den Kopf hin und her.

„Du musst ihr noch ein Gesicht malen.", merkt er an, während er die Spitzen ihrer Haare blau malt.
„Ich male ihr kein Gesicht. Es geht um das Kleid.", erklärt sie ihm langsam, als würde sie mit einem kleinen Kind reden, doch er scheint älter als sie. Er sieht nicht aus wie die anderen Zweitklässler in ihrer Schule.
„Das ist eine Modezeichnung.", betont sie und reckt ihr Kinn vor. Demir zieht eine Braue hoch.
„Für Supermodels?" Sie nickt. „Haben Supermodels keine Gesichter?"
„Was willst du? Wieso sitzt du hier?"

Er schaut auf die pinken Socken und dann in ihre blauen Augen. Sie strahlen förmlich, wenn auch ein wenig vor Ärger.
„Ich glaube kleine Muster wären ganz gut. Wie ein Netz.", meint er und zeigt auf das weiße Kleid. Widerwillig schaut sie darauf und versucht sich vorzustellen, was er meint, doch sie kann sich bei bestem Willen nicht vorstellen von was für einem Netz er spricht.
„Wie genau?" Langsam greift er wieder nach einem Stift und schaut sie dabei fragend an. Als sie nickt, rückt er noch ein Stück näher, dass sie Schulter an Schulter sitzen und er den Zeichenblock auf seinen Schoß ziehen kann.
„Schau, so."

Er beginnt kleine Blumen über das lange Kleid zu malen und verbindet sie mit dünnen Linien, dass es aussieht wie Spitzenstoff.
„Das ist schön.", gesteht sie und legt den Kopf schräg,„Fällt dir noch etwas ein?" Er beobachtet, was sie bisher gemalt hat, während sie ihn beobachtet und sein Gesicht studiert. Warum ist er nur zu ihr gekommen? Sie dachte niemand würde es bemerken, wenn sie hier oben alleine sitzt.
„Da könnte von unten mehr Stoff hängen, oder?" Sie nickt.

„Das ist wirklich gut.", sagt er nachdem sie Schatten und mehr Details skizzieren.
„Du bist gut darin.", stimmt sie zu,„Willst du auch Modedesigner werden?" Er lacht laut auf.
„Nein. Ich könnte... Feuerwehrmann werden."
„Oder Designer.", beharrt sie und zum ersten Mal lächelt sie ihn an,„Ich will auch Modedesignerin werden."
Demir lächelt zurück und schaut zurück zum Sandkasten, um die Kinder zu beobachten.
Modedesigner. Sowas ist ihm nicht ansatzweise durch den Kopf gegangen. Weshalb auch? Er trägt jeden Tag schwarze Jeans und das gleiche Oberteil in unterschiedlichen Farben. Mode hat ihn nie interessiert. Bis jetzt zumindest nicht.

Mit einem lauten Seufzer reißt er das Papier heraus und sie starrt ihn mit großen Augen an.
„Warum machst du das?" Demir springt auf die Füße und dreht sich um.
„Das behalte ich.", sagt er und macht einen Schritt zurück,„Und ich werde auch Modedesigner. Aber nur wenn du mir etwas versprichst." Ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen.
Mira schaut ihn skeptisch an.
„Du musst mich dann heiraten."

Nächste Woche kam sie nicht mehr zum Spielplatz. Auch die Woche darauf nicht.
Und irgendwann hörte er auf, auf den Hügel zu schauen.




Hi und herzlich Willkommen bei meiner neuen Reihe!
Ich freue mich soooo sehr die Szenarien in meinem Kopf mit euch zu teilen. Ich hoffe sie werden euch gefallen und ihr werdet die ganzen neuen Menschen mit den neuen Geschichten, um sie herum, mögen!
Wir werden eine tolle Zeit hier haben, ich spüre es. 🥳

SECRET DESIREWhere stories live. Discover now