Kapitel 27

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Scarlett

Die Sonne schien direkt in mein Gesicht, ich öffnete meine Augen und blickte in den wolkenlosen blauen Himmel. Ok nein, es war die blaue Wand, die ich sofort, nachdem ich meine Augen öffnete, sah. BÄM! Im nächsten Moment riss ich meine Augen auf und dachte scharf nach. Halt halt halt. Mein Zimmer ist nicht blau gestrichen und mein Bett ist neben dem Fenster, die Sonne kann doch gar nicht... Ich spürte etwas Warmes an meinem Hals und drehte so langsam und so vorsichtig wie möglich meinen Kopf. Leider ging das nicht zu weit, da meine Haare leicht eingeklemmt sind. Jedoch konnte ich genug sehen. Leons Kopf war direkt neben meinem, er lag auf meinen Haaren. Das Warme was ich gespürt habe war sein Atem, welches in regelmäßigen Abständen gegen meinen Hals prallte. Das hies, dass er noch schlief. Ich versuchte mich nicht zu rühren, um ihn nicht zu wecken. Stattdessen nahm ich ihn unter die Lupe. Er sah von nahem noch viel schöner aus als von weitem. Auch wenn ich seine wunderschönen blauen Augen nicht sehen konnte war er so...hübsch. Seine schwarzen Haare waren verwuschelt, seine Lippen leicht geöffnet. Er sah aus wie ein Engel. Ein etwas älterer Engel als normalerweise. Egal wie lang ich ihn betrachtete, es wurde mir nicht langweilig, ich "entdeckte" immer weitere Kleinigkeiten, die mir zuvor noch nicht aufgefallen sind.
Wie zum Beispiel eine kleine Narbe ganz oben auf der Stirn. Sie sah aus wie winziges umgekehrtes L. oder seine wirklich übermäßig langen Wimpern. Ich studierte sein ganzes Gesicht und speicherte alles in meinem Gehirn. Als ich meinen Hals nicht weiter verrenken konnte und dieser auch schon leicht verkrampft war, legte ich mich wider Willen wieder hin. Da Leons Arm dort lag, musste ich meinen Kopf darauf legen. Bin ich etwa die ganze Nacht so gelegen? Ich kann mich nicht erinnern, dass sich Leon in den letzten Minuten bewegt hat. Ich lag also die ganze Nacht auf seinem Arm gelegen habe.
Plötzlich spürte ich einen Druck auf meinem Bauch, und daraufhin einen arm, der meine Hüfte umschlang.
"War ich denn interessant?", fragte mich Leon mit verschlafener Stimme, doch ich konnte deutlich sein zufriedenes Lächeln heraushören. Sofort schoss Röte in mein Gesicht. Er hatte gar nicht geschlafen?
"Seit wann bist du denn wach?", fragte ich und versuchte die Situation zu überspielen, damit er bloß nicht merkte wie ich mich gerade fühlte.
"Hmm..weiß nicht. 5 Minuten oder so", lachte er und drückte mich noch näher zu sich. Ich spürte seinen Oberkörper schon sehr deutlich an meinem Rücken.
"Und-" Leon unterbrach mich durch ein leises Lachen.
"Du weißt, dass du auf meinem Arm liegst und ich deine warmen Wangen spüren kann, oder?" Daraufhin lachte er nur noch mehr während ich ruckartig meinen Kopf hob. Das stellte sich als eine ziemlich Schlechte Idee heraus.. Meine Haare befanden sich nach wie vor unter Leons Kopf. Nur blöd, dass ich es erst gemerkt habe, nachdem ich meinen Kopf ohne Überlegen, und dann noch ruckartig, hob.
"Autsch!"
Anstatt sich nach meinem Wohlbefinden zu erkunden lachte Leon weiter. Er bekam schon fast keine Luft mehr.
"Lach mich ruhig aus", murmelte ich beleidigt und rieb an meinem Kopf.
"Oh oh", hörte ich ihn sagen.
"Was?"
"Ehhh...du hast da eine kleine Miniglatze", sagte er ganz ernst und schaute auf irgendeine Stelle auf meinem Kopf.
"WAS?", rief ich und tastete meinen ganzen Kopf nach der Miniglatze ab. Ich sah kurz unter Leons Kopf, um zu sehen wieviele Haare ich dabei verloren habe. Als ich völlig erschrocken in Sein Gesicht sah und sah...was wohl? Sein blödes Gesicht mit einem fetten Grinsen darauf.
"Leooon...", sagte ich misstrauisch und verengte meine Augen. Das war wohl das Zeichen auf das er gewartet hatte denn er lachte und hielt sich schon fast seinen Bauch. Er sah im Moment genau so aus wie diese Comicfiguren, die in den Comics auf dem Boden liegen wenn sie lachen.
"Du musstest mal-" er holte tief Luft, da er vor Lachen kaum noch regelmäßig atmen konnte. "-dein Gesicht sehen und deine Hand, die nach der Stelle sucht." Danach lachte er nur noch mehr.
Innerlich würde ich am liebsten im Boden versinken und ich wette mein Gesicht war rot. So rot wie eine Paprika, doch es lag nicht daran, dass es mir peinlich war. Ok, eigentlich schon teilweise, aber auch leicht wegen meiner Wut.
Darüber macht man keine Scherze.
Ohne ein Wort zu sagen stand ich auf und ging ohne auf Leon zu achten einfach aus dem Zimmer. Als ich an der Tür ankam hörte sein Lachen auf. Er hatte wohl bemerkt, dass etwas nicht stimmte.
Ich dachte es hört auf. Bin ich so leicht zu verarschen? Falle ich auf jeden Trick rein? Ich dachte es wäre endlich vorbei, doch ich habe mich getäuscht. Leon hat das bestimmt nicht absichtlich gemacht, aber diese Hänseleien erinnern mich immer wieder an die Zeiten, als er noch nicht da war. Meine Augen wurden feuchter. Ich blinzelte schneller und ging schnell mit gesenktem Kopf aus seinem Zimmer. Die Wut ist verblasst, ich war nicht mehr wütend auf ihn, nein. Das war nicht richtig. Er kann doch sicherlich nichts dafür. Es ist meine Vergangenheit, er hat nichts damit zu tun. Stattdessen fingen meine Augen immer weiter an zu tränen. Nur Durch ihn sind meine Eltern hinter Gitter. Nur wegen ihm habe ich eine optimistische Sichtweise auf meine Zukunft. Nur durch ihn kenne ich das Gefühl der Freundschaft, der Zugehörigkeit. Alles wegen Leon. Doch ich kann mich nicht von meiner Vergangenheit befreien. Immer wieder werde ich in diese zurück geworfen. Immer wieder wegen Kleinigkeiten, die Personen erwähnen. Immer werde ich an alles erinnert. Wieso kann ich nicht einfach mit der Vergangenheit abschließen? Ich stand mitten auf dem Flur und musste stark schlucken. Als die Tür hinter mir aufging, rannte ich schnell ins Bad. Ich will mit niemanden reden. Im Bad angekommen warf ich die Tür hinter mir zu, doch ich war wohl nicht schnell genug, denn jemand stellte einen Fuß dazwischen und warf diese wieder auf. Ich konnte mir schon denken wer das ist.
Er soll mich nicht so sehen, er soll einfach nicht hier sein.
"Scarlett..." Seine Stimme klang besorgt.
"Was habe ich gemacht?", fragte er.
Ich antwortete nicht.
"Scarlett. Dreh dich mal zu mir um."
Wieder antwortete ich nicht und blieb regungslos stehen.
"Scarlett."
Ich spürte zwei Hände an meinen Schultern. Er drehte mich zu sich um, ich wehrte mich aber nicht. Wieso verschwindet er nicht einfach? Jeder andere vernünftige Junge würde bei meinen Stimmungsschwankungen schon längst verschwunden sein und mich alleine lassen. Leon ist ein vernünftiger Junge, aber er dachte nicht im geringsten daran mich alleine zu lassen.
Stur blickte ich auf den Fußboden, den weißen, schönen Fußboden, doch lange hielt das nicht an. Leon zwang mich, mit einer Hand unter meinem Kinn und der Aufforderung "Schau mich an" dazu in seine blauen Augen zu sehen. Darin sah ich weder Wut noch irgendetwas, was darauf hindeutete, dass er genervt ist. Stattdessen war da nur Aufmerksamkeit. "Was ist los?"
Ich schüttelte leicht meinen Kopf.
"Scarlett! Sag mir was los ist."
Geduldig wartete er auf meine Antwort, doch was sollte ich schon sagen? Das es mir nicht gut ging? Das sah man doch schon von Weitem, dass dem so nicht ist.
"Was habe ich gemacht?"
Ich schüttelte wieder meinen Kopf.
"Willst du mir erzählen was los ist?"
Ein weiteres Mal ein Kopfschütteln.
Er seufzte.
"Erzähl mir was los ist. Ich sehe doch, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Man sieht dir diese Angst und diese Trauer an und-" Er brach seinen Satz ab, hob seine Hand an meine Wange, sah mir in die Augen und fuhr dann fort: "-ich will nicht, dass du traurig bist oder Angst hast. Du weißt doch, dass ich für dich da bin, egal wo, egal wann und egal was ist."
Als er das sagte erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Jenny.

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"Vergiss nicht", rief sie mir hinterher.
"Deine Schwester ist eine Schlampe. Sie hat mir meinen Freund weggenommen. Das wird sie büßen!"
Ruckartig blieb ich stehen. Niemand spricht so über Jenny. Ich rannte zurück, auf den Treppenabsatz, welches in die Schule führte und stand in wenigen Sekunden vor ihr.
"Iiiiiih, schau mal. Wer hätte gedacht, dass man so hässlich sein kann? Pass auf, dass sie dich nicht mit ihrer Hässlichkeit ansteckt", warnte eine Anhängerin von Ashley. Dabei fasste sich eine von Ashleys Anhängerin an die Nase. "Und sie stinkt auch noch", fügte dieselbe Person hinzu und trat einen Schritt zurück. Dabei sah sie mich angeekelt an. Bevor ich mir aber über meine folgende Tat im Klaren war, hatte ich Ashley schon eine geklatscht.
"REDE NICHT SO ÜBER MEINE SCHWESTER!", schrie ich sie an.
Ashleys Gesicht wurde rot und sie starrte mich aus wütend funkelnden Augen an.
"DAS WIRD DIR NOCH LEID TUN? NIEMAND BEHANDELT MICH SO! LOS! MACHT SIE FERTIG!", kreischte sie und die ganzen Jungs, die hinter ihr stehen, umzingelten mich.
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Mit Schmerzen ging ich auf unsere Ausfahrt zu. Ich versuchte mir meine Schmerzen nicht anmerken zu lassen und betrat unser Haus. Sofort stürmte Jenny schon auf mich zu.
"Scar! Ich muss dir unbedingt etwas erzählen. Lucas und ich-"
Sie inspizierte mich von oben bis unten und sah mich dann scharf an.
"Was ist passiert?"
Erschrocken darüber musste ich erst einmal realisieren, was sie gerade gesagt hat.
"Nichts, wieso?" Dabei versuchte ich ein Lächeln zu Stande zu bringen.
Sie verengte ihre Augen, zog meinen Arm zu sich hin und krempelte diesen hoch. Darauf waren deutlich die Handabdrücke der Jungs zu sehen. Ohne ein Wort zu sagen drehte sie sich um und lief die Treppen hoch. Ich erwachte aus der Starre und lief ihr hinterher. Dabei versuchte ich die Schmerzen an meinem Bein zu ignorieren. Vor ihrer Zimmertür blieb ich stehen, klopfte an und machte die Tür auf.
"Jenny...darf ich reinkommen?"
Sie saß auf ihrem Schreibtischstuhl.
Zögerlich trat ich ein.
"Tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe", fing ich an.
Wie auf dem Kommando drehte sie sich um und sah mir direkt in meine Augen.
"Wieso hast du mich angelogen?", fragte sie verletzt.
"Ich dachte wir hätten keine Geheimnisse."
"Ich wollte nicht, dass du dir um mich sorgen machst."
Sie riss ihre Augen auf.
"Du bist meine kleine Schwester! Da muss ich mir Sorgen machen!"
"Hey!! Das sind nur 2 Minuten. So viel kleiner bin ich nicht", sagte ich und verschränkte meine Hände vor der Brust. Die Schmerzen, die ich dabei fühlte unterdrückte ich.
Jenny lächelte leicht und sah mich im nächsten Moment wieder an.
"Du brauchst dir um mich keine Sorgen machen. 2 Minuten sind 2 Minuten. Du bist meine kleine Schwester und das wird immer so bleiben. Wir haben niemals Geheimnisse voreinander. Wir konnte immer über alles reden und haben immer eine Lösung gefunden. Immer. Und das wird sich auch nie ändern. Wir sind füreinander da, egal was, egal wann und egal wo."

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Das war ein Tag vor Jennys Unfall. Genau dasselbe hatte sie auch gesagt, was Leon gerade gesagt hat.
Das war wohl der Auslöser gewesen, denn im nächsten Moment brachen bei mir die Dämme und ich fiel in Leons Arme und weinte drauf los. Schon so lange habe ich nicht mehr geweint. Habe versucht all die Schmerzen zu unterdrücken und all die Erinnerungen zu verdrängen, mit der Hoffnung diese vergessen zu können. Ich vermisste Jenny so sehr. Woher sollte ich wissen, dass mir nur so wenig Zeit mit ihr blieb? Genau einen Tag danach verlies sie mich für immer. Ein ganzes Jahr lang musste ich alleine leben. Ich war ganz allein.
Und die ganzen Beleidigungen von Ashley und ihren Anhängen fing genau einenTag vor Jennys Unfall an. Ein ganzes Jahr voller Einsamkeit, Trauer und Tränen.
Und dann kommen plötzlich zwei Menschen in mein Leben, die mein Leben wieder einen Sinn geben. So oft stand ich schon davor Schlaftabletten zu mir zu nehmen, um nicht mehr auf dieser grausamen Welt zu leben. So oft wollte ich sterben und das nur wegen meinen Eltern und Ashley. So oft stand ich schon davor mein Leben zu beenden, doch ich habe immer auf das Glück in der Zukunft gehofft. Die Hoffnung auf ein besseres Leben hielt mich noch am Leben.
Jenny hat mir diesen wundervollen Jungen geschenkt, der mich alles Schlimme vergessen lässt. Sie ist bei mir.

"Wir stehen alles gemeinsam durch", hörte ich plötzlich jemanden direkt neben meinem Ohr flüstern. Ein warmer Luftzug streifte mich und verschwand im nächsten Moment wieder.
"Ich liebe dich Jenny", flüsterte ich so leise wie es ging.
Die Tränen wurden zu Freudentränen. "Danke", flüsterte ich lauter, damit Leon mich hören konnte.
"Danke", wiederholte ich.

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Die Hoffnung Stirbt zuletzt *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt