Hilf mir, bitte!

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Als ich aus dem Schlaf hochschrecke, ist die Sonne gerade dabei über den Horizont zu kriechen. Etwas irritiert blicke ich mich um, doch da fällt mir plötzlich wieder ein, wo ich bin und vor allem warum!
Hektisch springe ich auf die Füße und will loslaufen, aber ich bin zu schnell aufgestanden und muss mich erst einmal an einem nahe gelegenen Baumstamm festhalten, um nicht umzufallen.
Wie lange habe ich geschlafen?
„Hey hey! Immer langsam, Kleine", dringt Madis' beruhigende Stimme an mein Ohr und als ich aufsehe, kommt er mir mit großen Schritten entgegen.
„Ich wollte dich gerade wecken, aber wie ich sehe ist das nicht mehr nötig. Bist du fertig?"
Ich nicke nur benommen und schüttle dann ein paar Mal den Kopf, um das lästige Schwindelgefühl loszuwerden. Vielleicht hätte ich wirklich nicht so schnell aufstehen sollen.
„Sehr gut. Bei Sonnenuntergang werden wir Fernīr erreicht haben", sagt Madis zuversichtlich und reicht mir eine Hand, die ich dankbar ergreife.
„Wenn es dann nicht schon zu spät ist!", knurrt Vendor aus einigen Metern Entfernung und wirft mir einen verächtlichen Blick zu.
Sofort will ich ihm eine nicht minder unhöfliche Antwort geben, doch Madis kommt mir zuvor.
„Es ist nicht zu spät!"
Dabei hält er eine kleine Papierrollen in die Höhe und ich erkenne sofort, dass es sich hierbei um Luftpost handelt.
Post von Kaíyra?
„Wollen wir es hoffen..."
Vendors unheilvolle Worte klingen mir noch in den Ohren, als wir unsere Reise schließlich fortsetzen.
Und über kurz oder lang muss ich auch noch unzufrieden feststellen, dass der Plan in meiner Hemdtasche nicht im Geringsten mit dem echten Weg übereinstimmt. Ich hätte die Elfen alleine also nie gefunden...und das macht mich sowohl ärgerlich als auch traurig.
„Hör zu, wir sind in wenigen Stunden in Fernīr und ich werde dich dort direkt zu Kaíyra bringen, in Ordnung? Alles weitere wird sie dir dann erklären", lässt mich Madis wissen, als wir gegen Mittag die nächste kleine Rast an einem Bach machen und ich mich ein wenig mit Proviant aus meiner Tasche stärke.
Ich nicke und beobachte dann wieder ausgiebig die Umgebung, die mittlerweile aus einem dichten Wald besteht. Nicht jedoch einem gewöhnlichen Wald.
Dieser Wald ist eine Mischung aus allen Sorten von Wäldern, die man sich nur vorstellen kann. So wechseln sich tiefer Dschungel mit hohem Gebrigswald, Nadel und Laubwälder, ja sogar Obstbäume mit Nordtannen munter untereinander ab. Und auch die Tiere, welche man in jedem dieser Waldgebiete finden würde, haben hier ihr Zuhause gefunden. Man darf sich also nicht wundern, wenn einem ein bunter, tropischer Vogel über den Weg fliegt und kurz darauf ein Elch im Unterholz verschwindet.
„Ihr habt echt ein klasse Zuhause", staune ich nicht schlecht, als wir unseren Weg in das Reich der Elfen fortsetzen und dabei einen großen Bogen um das Areal der Sümpfe machen.
Meine Aufregung steigt im Laufe des Tages weiter zunehmend und als wir gegen Abend endlich die weißen Türme einer Stadt zwischen den Baumwipfeln erkennen können, klopft mein Herz immer schneller.
Bevor wir Fernīr allerdings zu Gesicht bekommen, treten plötzlich bewaffnete Elfenkrieger in unseren Weg und versperren uns grimmig den Weg.
Als sie aber Madis und Vendor erkennen, wird ihre Miene sogleich freundlicher. Einzig mich beäugen sie weiterhin skeptisch.
„Ist sie das?", fragt einer der Elfen mit interessierter Stimme und deutet mit dem Daumen auf mich. Als Madis bestätigend nickt, wechselt sein Gesichtsausdruck von Skepsis in Besorgnis.
„Alrï sagt, ihr solltet euch beeilen! Sie ist mittlerweile bewusstlos."
Verwirrt sehe ich dabei zu, wie Madis und Vendor alarmierte Blicke tauschen, dann legt Madis mir nachdrücklich eine Hand auf die Schulter und wir passieren mit schnellen Schritten die Elfenkrieger, welche weiterhin ihre Stellung halten.
„Von wegen wir haben Zeit! Kommt schon!", knurrt Vendor und läuft uns voraus, auf den gepflasterten Weg, der sich vor unseren Füßen nach und nach aus dem Waldboden erhebt.
Mir bleibt kaum Zeit die Stadt in ihrer Größe und Schönheit zu bewundern, all die Gebäude aus weißem, blank polierten Stein, als Madis mich auch schon mit sanftem Druck nach links dirigiert und über einen schmalen Fußweg zu einem flachen aber dennoch großem Haus, umgeben von einem blühenden Garten und bewirtschafteten Beeten, führt.
„Madis, was ist los? Wer ist bewusstlos? Wo sind wir hier?", frage ich den Elfen verwirrt, während wir die schwere Holztür passieren und in eine Art kleine Halle kommen.
Auch hier drin wachsen viele Blumen, sogar ein kleiner Wasserfall stürzt von der Wand herunter und mündet in einem kleinen Flüsschen, das sich unter einer riesigen Glasscheibe hinweg nach draußen schlängelt.
Doch ich habe gar keine Zeit auf all die schönen Dinge zu achten, denn Madis schiebt mich weiter einen breiten Gang entlang, von dem wiederum etliche, geschlossene Türen abzweigen.
„Das hier ist der Heilungssaal, Raine. Kaíyra ist hier."
Er braucht gar nicht mehr weiterzureden, denn just in diesem Augenblick bleiben wir vor einer geöffneten Tür stehen, an der Vendor bereits auf uns wartet und ich sehe in einen hübschen kleinen Raum hinein, der genau wie die Eingangshalle mit vielen Blumen geschmückt ist.
An der rechten Wand steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und dahinter ermöglicht eine große Glasfront den Blick in den farbenfrohen Garten der Anlage.
Links von der Tür befindet sich ein kleiner Waschtisch mit einer steinernen Wasserschüssel darauf, über der ein silberner Hahn prangt. Daneben liegt ein gefaltetes Handtuch und auch ein großer Spiegel hängt über der runden Schüssel.
Zu guter Letzt, steht am hinteren Ende des Zimmers ein breites Bett, in dem jemand zu liegen scheint, den ich allerdings nicht genau erkennen kann.
Denn in diesem Augenblick tritt eine fremde Elfe in mein Blickfeld und als sie mich sieht, erkenne ich sofort die große Erleichterung in ihren weißen Augen.
„Oh Gott sei Dank, ihr habt sie gefunden! Komm herein, Raine!"
Etwas überfordert mit der gesamten Situation und all den neuen Eindrücken, die nun auf mich einprasseln, betrete ich langsam das helle Zimmer, doch diesmal ist Vendors Geduld wohl endgültig aufgebraucht.
Er schubst mich mehr in den kleinen Raum hinein, als dass ich selbst gehe und da er mich schon den ganzen Weg hier her mehr als unfreundlich behandelt hat, setzt es bei mir nun einfach aus. Zornig will ich herumfahren und ihn von mir stoßen, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel erkenne, wer da in dem Bett am anderen Ende des Zimmers liegt.
Und durch meinen Körper fährt ein wahrer Donnerschlag!
Es ist Kaíyra.
Aber gleichzeitig auch nicht!
Denn die Person, die ich dort sehe, hat nicht mehr viel mit der starken und schönen Elfe gemeinsam, die ich kenne.
Kaíyras gesamter Körper ist mit Schweiß überzogen. Ihr Atem geht unregelmäßig und ihre Haut scheint regelrecht zu glühen, sodass ich selbst aus der Entfernung die Hitze förmlich spüren kann. Kaíyras Augen sind zwar geschlossen, doch sie zucken unruhig hin und her und ein schmerzhafter Ausdruck liegt in ihrem sonst so hübschen Gesicht.
Am erschreckendsten ist für mich aber die Form ihres Körpers.
Kaíyra hat mit Sicherheit ein Drittel ihres Gewichts verloren.
Und das schmeichelt ihrer sowieso schon schlanke Gestalt kein bisschen. Ihre Wangenknochen treten noch stärker hervor als gewöhnlich, auch ihre Schultern und Arme wirken knochig und abgemagert, sie ist ein regelrechter Schatten ihrer selbst. Den Rest ihres geschwächten Körpers kann ich nicht sehen, da er von einer dünnen Decke verdeckt wird, aber ich kann mir denken, wie es darunter aussehen wird.
Nämlich nicht gut.
„Was ist-... was ist mit ihr?", frage ich sowohl geschockt als auch entsetzt und sehe hinüber zu der fremden Elfe, die ihrer Kleidung nach eine Art Heilerin zu sein scheint und die mich nun eilig zu sich winkt.
„Kaíyra braucht dich jetzt, Raine. Du bist die Einzige, die ihr noch helfen kann!"
Verwirrt folge ich der Aufforderung der Elfe, allerdings ohne meinen Blick dabei auch nur ein einziges Mal von Kaíyra zu nehmen.
Sie sieht schlecht aus. Wirklich sehr schlecht.
Und mit einem Mal spüre ich die Angst tief in mir. Die Angst, dass womöglich Kaíyra sterben könnte...
„Ist sie vergiftet?! Ist sie krank? Was ist mit ihr passiert?!", frage ich erneut, diesmal mit deutlicher Panik in der Stimme und wende mich nun auch hilfesuchend an Madis und Vendor, die aber beide nur besorgt zu der Heilerin hinüber blicken.
Ich kann Kaíyra nicht verlieren.
Ich kann damit leben, dass sie mich nicht bei sich haben will. Ich könnte sogar damit leben, dass sie mit jemand anderem als mir zusammen ist. Aber ich kann nicht leben, wenn Kaíyra stirbt. Niemals!
„Nichts dergleichen, Raine", sagt die ältere Elfe beruhigend und legt mir die Hände auf die Schultern. Sie sind angenehm warm und weich, aber nichts im Vergleich zu Kaíyras zarten Berührungen, "es sieht so aus, als würdest du zu Kaíyra gehören. Und ohne deine Nähe kann sie von jetzt an nicht mehr überleben. Du bist quasi ihr Lebenselixier geworden, das Kostbarste was sie von jetzt an besitzt. Den Rest soll sie dir selbst erklären, wenn sie aufwacht, merk dir nur eins: Wenn du Kaíyra verlässt, wird sie sterben. So wie sie es jetzt gerade fast getan hätte..."
Ich kann die Heilerin nur mit offenem Mund anstarren. Das ist gerade einfach alles zu viel für mich.
Kaíyra gehört zu mir? Sie wird sterben ohne mich? Was ?!
„Ich- ich verstehe glaub ich nicht ganz?", antworte ich überfordert, doch die fremde Elfe winkt nur ab.
„Du wirst es verstehen lernen. Und Kaíyra wird es dir erklären. Aber jetzt ist erstmal wichtig, dass sie wieder aufwacht. Und dass du in dieser kritischen Phase immer an ihrer Seite bist. So nah wie möglich."
Und damit lässt sie mich los und schiebt mich sanft zu Kaíyras Bett hinüber.
Ich bin immer noch zu perplex, um angemessen zu reagieren und habe das dringende Bedürfnis meine Gedanken zu sortieren, doch dazu bleibt mir keine Zeit mehr.
Denn wie aufs Stichwort packt Vendor mich grob am Arm und zerrt mich hinüber zu Kaíyras Krankenbett.
„Los! Geh schon!", knurrt er.
„Fass mich nicht an", zische ich wütend zurück und reiße meinen Arm mit einem kräftigen Ruck aus seinem festen Griff. Zornig funkeln wir uns an und ich bin schon wieder drauf und dran auf den feindseligen Elfen loszugehen, als mich der bloße Klang ihrer schwachen Stimme zurückhält.
„Aber du solltest vielleicht mich anfassen..."
Augenblicklich fahren wir alle herum und ich starre in Kaíyras goldene Augen, die mich erschöpft ansehen. Das Gold in ihnen wirkt seltsam farblos und stumpf, aber das schwache Lächeln, das sich mittlerweile auf ihre blassen Lippen geschlichen hat, gibt mir Hoffnung. Hoffnung, dass noch nicht alles zu spät ist.
„Oh Gott sei Dank, es hat funktioniert", höre ich die Heilerin noch mit halben Ohr seufzen, doch ich höre ihr gar nicht mehr zu. Ich kann mich gerade nur auf Kaíyra fokussieren.
Denn trotz ihres schlechten Zustandes und ihrer Schwäche, bringt alleine der sanfte Blick ihrer golden Augen und das kleinen Lächeln auf ihren zitternden Lippen, mein Herz zum schmelzen.
Und nach einigen Sekunden weiß ich auch warum.
Der Blick ihrer goldenen Augen ist nicht nur warm und sanft.
Er ist zärtlich.

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