● Kapitel 8

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17. Dezember

// E R I N //

Gedankenverloren sitze ich am späten Nachmittag auf der Arbeitsfläche in der Küche und starre meinen heißen Kakao an.

Der Weihnachtsmann, der auf der Tasse gedruckt ist, lächelt mich fröhlich an.

Heute war ich noch gar nicht zur Tower Bridge gegangen, weil ich es nicht über mein Herz bringe. Der Schmerz von damals scheint wieder Oberhand zu gewinnen und lähmt mich.

Am liebsten würde ich weinen, schreien, alles klein und kaputt hauen, nur um diesen Schmerz irgendwie verarbeiten zu können.

Mich kribbelt es in den Fingern meine schöne Weihnachtstasse, die ich vor Jahren mal geschenkt bekommen hatte, auf den Boden zu schmeißen.

Gefühle waren noch nie meine Spezialität gewesen, am liebsten verstecke ich jedes Gefühl, was von mir auskommt. Ich halte mich für mein Alter für ein sehr schwieriges Kind, was aber daran liegt, dass ich es bisher nicht wirklich leicht hatte.

Gefühle sind doch komisch, vielleicht ist es einfacher gar nichts zu spüren. Keine Trauer, keine Wut, keinen Schmerz. Aber es würde auch anstrengend sein, alle Leute mit tausenden von Gefühlen zu sehen und dann selbst keine zu haben. Aber dann bin ich mein schmerzliches Problem los.

Was mache ich mir nur selbst vor? Ich bin nicht glücklich, erwecke aber bei jeder Person den Eindruck. Selbst bei einem Star wie Louis Tomlinson.

Niemals würde er denken, dass es in mir so dunkel aussieht und wie sehr mir alles im Dezember schmerzt.

Früher hatte ich den Dezember geliebt, klar, Schnee, Weihnachten, das Fest der Liebe und ich scheine auch die Person zu sein, die das Fest liebt. Ich liebe Weihnachten wirklich, keine Frage. Es ist das Fest meiner Familie, wo wir alle zusammenkommen und glücklich sind. Halbwegs. Es verläuft nicht alles nach Plan.

 Der 17. Dezember ist aber einer der Tage, die ich am liebsten nur noch vergessen will. Gerade weil er am meisten wehtut.

Vorgestern war ich noch glücklich wie sonst was und heute? Heute würde ich alles gerne hinschmeißen.

Jedes Jahr fragen mich so viele Menschen, was ich mir zu Weihnachten wünsche, aber ich weiß, dass mir niemand mein Wunsch erfüllen kann. Ansonsten habe ich alles. Ich habe eine tolle Familie, ich bekomme alles, was ich will, und trotzdem fehlt da was.

 Seufzend trinke ich den Kakao mit nur einem Zug aus und stelle die Tasse in die Spüle neben mir, danach springe ich von der Arbeitsfläche herunter und rutsche auf meinen flauschigen Socken in den großen Eingangsbereich.

Ich nehme meine Schuhe aus dem Schuhschrank und ziehe sie mir schnell an, danach nehme ich meine Jacke, welche ich mit Louis gekauft hatte, vom Haken und ziehe sie mir an. Meine Handschuhe, die in meiner Tasche von meiner Jacke sind, nehme ich heraus und ziehe sie mir an, ebenso wie meine Mütze und meinen Schal.

»Ich gehe raus!«, rufe ich laut und verschwinde dann nach draußen. Es schneit. Schon wieder.

Draußen ist es schon dunkel, die Laternen spenden nur ein wenig Licht und werfen dabei komische Schatten auf den Boden.

Ich renne die Straße entlang, spüre die Wärme in mir aufsteigen, rutsche einmal fast aus.

Zur Tower Bridge laufe ich immer ungefähr eine halbe Stunde.

 Von weiten erkenne die Statur eines jungen Mannes, der gegen das Geländer lehnt und auf seinem Handy schaut.

Ohne groß nachzudenken beschleunige ich mein Tempo und bleibe fünf Minuten später vor Louis stehe.

Er schaut mich erst überrascht an, dann fangen seine Augen an zu strahlen und ein warmes, glückliches Lächeln legt sich auf seine Lippen.

»Ich dachte, du kommst heute gar nicht mehr«, sagt er scherzhaft, doch mir ist gar nicht zum Lachen zumute.

Am liebsten würde ich meinen Tränen freien Lauf lassen.

Louis scheint dies zu bemerken, denn das Strahlen seiner Augen wird von einem Blick voller Sorge ausgetauscht.

»Was ist los?«, fragt er leise, doch ich schüttle den Kopf. So gerne ich ihm das erzählen möchte, ich kann darüber nicht reden. Nicht hier, nicht heute, nicht jetzt.

Was nützt mir das, wenn ich ihm meine Sorge erzähle? Er hat genug Sorgen ohne mich, da braucht er meine nicht.

Mal abgesehen davon, dass ich nicht wirklich eine Sorge habe.

»Nicht wichtig, Louis«, sage ich leise.

Louis legt seine Hand an meine Wange und schaut mir tief in die Augen: »Du kannst mir sagen, wenn was ist, Erin. Weißt du... wie du mir, so ich dir.«

»Louis, es ist wirklich nichts Großes«, wehre ich ab, obwohl ich ganz genau mein Herz zersplittern höre. »Es ist nur... ach egal, können wir bitte über was anderes reden?«

»Vertraust du mir nicht?«, fragt er und in seinen besorgten Blick mischt sich was Trauriges dazu.

»Es ist nicht so, dass ich es dir nicht vertraue - ganz im Gegenteil, ich vertraue dir wirklich«, versuche ich ihm zu versichern. Ehrlicher könnte ich zu dem Zeitpunkt auch nicht sein.

Louis ist mir wichtig und wenn ich im Jahr 2015 zurück nach Deutschland gehe, dann will ich, dass er mich als Erin, das glückliche, lebensfreudige und etwas durchgeknallte Mädchen von der Tower Bridge in Erinnerung behält. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«, frage ich leise und er nickt leicht. »Nimm mich einfach fest in den Arm. Bitte.«

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