Prolog

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[Eine neue Ära]

~Von Jägern und Gejagten~

Ikarus. Nur ein Junge, der zu weit hinauf wollte und die Sonne berührt hatte. Doch die Sonne ist nicht da, um sie zu berühren. Sie verbrennt dich, wenn du zu nahe zu ihr kommst. Ihr Schein wärmt dich, beschützt und behütet dich, vor der tiefen Nacht, aber wenn du ihr zu nahe kommst, dann verbrennst du dir die Flügel und wirst von dem rauschenden Meer verschlungen, gehst in den schlagenden Wellen unter und verlierst jede einzelne Feder, die dich zuvor so weit getragen hatte.

Deshalb hatte Icarus sich diesen Namen gegeben. Sie war der Junge, in diese Geschichte gewesen, der gedacht hatte, das diese Flügel ihn bis ans Ende der Welt tragen würden und noch weiter. Bis zur Sonne, aber sie hatte sich überschätzt. Die Sonne hatte ihre Flügel verbrannt und sie war gerade dabei in das tosende Meer zu stürzen und verschluckt zu werden.

Aber etwas fing sie auf. Ihr Onkel Charon, wie ironisch. Er war doch selbst sowas wie die Sonne, unerreichbar fern und gefährlich, aber dennoch fing er sie auf. Icarus fiel nicht mehr, sie war dem Tod um Haaresbreite entgangen.

So erzählt man sich Ikarus' Geschichte. Ein Junge, der Flügel bekam und zu weit zur Sonne will. Er schaffte es, verbrannte sich jedoch die Flügel und stürzte schreiend ins Meer.
Aber was man sich nicht erzählt ist, das Ikarus gelacht hat, während er fiel. Ein ruhiges Lachen auf seinen Lippen, die Augen geschlossen. Die Arme ausgebreitet und bereit, von den Wellen aufgenommen zu werden. Er lächelte, weil er es geschafft hatte. Er hatte die Sonne berührt, seine Finger hatten diese brennend-heiße Oberfläche tatsächlich berührt und ihn verbrannt. Aber er hatte es geschafft. Sein Ziel war erreicht und nun schien der Tod nicht mehr wie das Ende.

Es gibt eine seltsame Schönheit in den Flammen, wenn man von ihnen umgeben ist und droht zu verbrennen. Eine seltsame Schönheit, aber sie existiert und Ikarus hat die Schönheit des Falles erkannt und gelächelt.

Vielleicht hätte Icarus ebenso fallen sollen. Nur weil man in die Wellen kracht, bedeutet das nicht, dass alles vorbei ist. Hätte Icarus die Schönheit ihres Falls erkannt, wäre sie vielleicht nicht in Gefahr. Diese seltene Schönheit, die einem nur zu Teil wird, wenn man sein Ziel erreicht hat und bereit ist, wieder zu fallen.

Denn wenn man in das Meer fällt, sind die Chancen grenzenlos. Icarus könnte schwimmen, sich treiben lassen, ihre letzten Momente in der wundersamen Welt unter Wasser verbringen oder auch erneut aufsteigen und zur neuen Sonne werden. Sie könnte anderen Wärme und Sicherheit spenden und diejenigen, die versuchen würden sie zu berühren, verbrennen und ihnen eine neue Chance geben, ein besseres Leben zu leben.

Aber Charon hatte sie aufgefangen, bevor sie die Schönheit ihres Falls erkennen konnte. Er hatte sie benebelt, perfekt mit Wahrheit und Lüge gespielt und Icarus so manipuliert. Sie war nicht dumm oder naiv, eher das Gegenteil, Charon war einfach zu gut.

Vielleicht hoffte sie zu viel, aber wenn man Hoffnung hatte, konnte man nicht verlieren. Man sollte sich also wirklich überlegen, ob Icarus dumm war, oder der Schmerz sie nur langsam aber sicher zerfraß und verätzte. Bevor man die Entscheidungen einer Person in Frage stellte, sollte man sich überlegen, was man selbst in einer solchen Situation getan hätte. Vermutlich dasselbe wie Icarus, denn ihre Entscheidung war die richtige.

Vertrauen war schwer zu erreichen und auch wenn Icarus vertrauen wollte, konnte sie es nicht. Die Jahre, die sie in der Arena verbracht hatte, waren genug um Instinkte aufzubauen und diese sagten ihr, sie könnte Charon nicht vertrauen. Einerseits, weil sie absolut nichts über ihn wusste und andererseits, weil er die Sonne war. Glühend heiß und gefährlich.

Aber nun stand sie hier, eine Kamera war direkt auf ihr Gesicht gerichtet und sie musste diese schrecklichen Worte sagen. Worte, die alles offenbaren würden. Sie müsste das Image ihres Vaters und ihrer Mutter zerstören, damit sie wieder fliegen könnte.

|•Fallen Angel•|Where stories live. Discover now