Kapitel 3

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   Als ich meine Augen öffne, starre ich die langweilige, graue Wand an. Die unerträgliche Kälte und der Druck in meinem Kopf haben mich aus meinen Träumen gerissen. Wenigstens scheinen die Halsschmerzen weniger geworden zu sein. Von Meredith oder meiner dunkelroten Decke ist keine einzige Spur zu sehen, aber als ich mich aufsetze, entdecke ich kleine Fußstapfen, die an meinem Becher von Bolder's Gas Station anfangen und wahrscheinlich irgendwo in der Ferne enden. Neugierig, aber mit einer Panik, die mir über den Rücken läuft, spähe ich nach dem Inhalt, aber finde nur den dreckigen Papierboden vor, der genau so leer aussieht, wie mein Magen sich anfühlt. Meredith hat mir nichts außer die Kleidung am Leib und den für andere Menschen wertlosen Kaffeebecher zurückgelassen. Jetzt verstehe ich auch, woher sie das ganze Geld für die Brötchentüte hatte und warum sie nicht mit mir teilen wollte. Nur Diebe handeln auf diese Art und Weise. Und jetzt hat Meredith, falls dies ihr richtiger Name ist, auch mich im Schlaf beklaut. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr allzu schlecht, dass ich sie in der Bäckerei belogen habe, aber die Sehnsucht nach der dunkelroten Decke und die möglichen Ausreden, warum ich sie der Tochter der Eisdielenbesitzerin nicht zurück geben kann, sobald der Frühling ausgebrochen ist, machen mir Angst. Ich werde jeden Tag des Winters, von morgens bis abends, Schnorren müssen, um das Geld für Chaplins Decke zusammen zu bekommen. Jeden...verdammten Tag.

  Mit einem Seufzer hebe ich den Becher aus dem matschigen Schnee auf und lehne mich zurück gegen die kalte, graue Wand. In der Stille meiner Gedanken vergesse ich den lästigen Druck in meinem Kopf, die Streiche meines Schicksals ...und schaue hinauf zum Himmel. Aber das riesige Gebäude von Hamilton & Sons Inc nimmt mir die Sicht. Manchmal, da stelle ich mir vor, dass ich einer dieser Anzugträger wäre und mich nicht um das Bett für die Nacht oder das Brot am nächsten morgen sorgen muss. Es wäre wirklich das Letzte, was ich tun würde. Niemals möchte ich so sein wie sie, egal, welche Autos ich fahren könnte oder aus welchem Stoff meine Kleidung dann wäre. Ich bin froh, nicht so zu sein, wie sie.

  Während meine Augen den langen Säulen folgen, bleiben sie nach dem ersten Drittel stehen, als ich einen Mann in einen der kleineren Büros am Fenster stehen sehe. Sein Blick wandert in der belebten Straße umher, bevor er sein Interesse bei mir findet. Vielleicht mag er sich nur überlegen, welche Eissorte er sich kaufen wird, sobald die Eisdiele wieder öffnet, oder er sehnt sich auch so sehr nach dem Sommer, wie ich. Anderseits braucht er sich keine Sorgen zu machen, da er in seinem schicken, warmen Büro steht und nicht mit einer durchlöcherten Hose auf der kalten Straße. Und es wundert mich sehr, warum sein Büro nicht am höchsten Gipfel des Gebäudes ist, wenn sein Vater der Oberhäuptling der ganzen Bande zu sein scheint. Vielleicht irre ich mich auch nur, und er ist gar nicht sein Sohn, oder der Mann ist in Wirklichkeit nicht einmal der Boss im Hause. Aber ich kann seinem herabschauenden Blick nicht widerstehen. Er macht mich so wütend...lässt mich so hilflos wirken.

   Schaue niemals auf die Leute herab, denen du nicht aufhilfst. Denke ich voller Frust, den ich ihm am liebsten ins Gesicht werfen würde...oder auf seine perfekt sitzenden Haare. Aber ich will nicht jetzt schon aufgeben, wende meinen Blick in die sich langsam aufbrausenden Menschenmassen zwischen uns. Nur ab und zu gehe ich auf Nummer sicher und schaue zurück in sein Büro, ob er immer noch am Fenster steht. Das letzte Mal, als ich ihn sah, hatte er tiefe Falten der Verwunderung auf seiner Stirn. Nun ist er vom Fenster verschwunden. Wundert er sich etwa, dass ich nach der letzten Nacht immer noch am Leben bin?.... Warum hat  er mich so dämlich angeschaut?

 Ich höre ein Geräusch aus meinem Becher und bemerke eine ältere Dame, die sich langsam, aber sicher wieder aufrichtet. Ihr Tuch hat sie um ihren kleinen Kopf gewickelt und die grauen Haare ragen an einigen Stellen heraus.

"Hier, mein Liebes." Bei ihrem freundlichen Lächeln wird mir warm ums Herz. Da ist wieder einer von ihnen.... einer der Menschen, die man auf dieser Welt immer noch antreffen kann. Ich musste nicht einmal nach ihr suchen. "Frohe Weihnachten, mein Liebes." So viel Liebe, Sorge und Glück hatte ich noch an keinem Tag seitdem ich alleine auf den Straßen unterwegs bin. Ich musste nicht einmal Schnorren.

"D-Danke! Dankeschön!" Ich würde noch so viel mehr zu ihr sagen, wenn ich nur könnte. Aber die Freude und gleichzeitig der quälende Druck in meinem Kopf, halten mich davon ab. "Fröhliche Weihnachten!" Meine Stimme ist kaum zu hören. "Danke!"

  Die Dame ist verschwunden und ich nehme mir ihre Spende aus dem Becher und mache mich auf den Weg zum Imbiss. Das Geld reicht nicht nur für eine warme Mahlzeit, sondern auch noch für eine ganze Brötchentüte vom Becker für morgen. Ich kann meine Freude kaum zurückhalten. Mein Herz hat seit langem nicht mehr so schnell geschlagen, wie in diesem Moment.

Ich werde nicht verhungern. Heute nicht.

...

  Die beiden Hotdogs liegen mir immer noch im Magen und nach der Coke muss ich die ganze Zeit aufstoßen. Es ist ne Weile her, seitdem mich wirklich etwas satt  bekommen konnte. Die Straßen leeren sich langsam und die Nacht bricht an. Die kreischenden Stimmen der Kinder verfliegen im nächtlichen Winterwind und die rumpelnden Motoren der Autos werden weniger. Und ich, ich bleibe hier sitzen. Jeden Abend. Selbst, nachdem die Geschäfte geschlossen haben, sitze ich hier im Eingang der Eisdiele und hoffe, dass ich am nächsten Morgen wieder aufwachen werde. Ich sitze hier, während mir all das präsentiert wird, was ich nicht haben kann. Direkt vor meinen Augen.

  Bei all den Autos, die ich heute Abend bereits habe wegfahren sehen, fällt mir auf, dass ich ihn dabei noch nicht entdecken konnte. Zahlreiche Schlitten mit verdunkelten Fenstern waren bereits am Gebäude gegenüber von mir angehalten, aber wäre er in einen von ihnen eingestiegen, dann hätte ich dies doch bemerkt. Oder etwa nicht?

Was kümmert es mich überhaupt? Er ist genau so ein Anzugträger, wie die anderen auch. Viel erreicht, aber fauler geht es nicht.

  Ich blicke hinauf zu den Büroräumen, als sich gerade das letzte brennende Licht ausschaltet und mit den anderen, bereits schlafenden Räumen, eine Einheit bildet. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass es sein Büro ist. Von oben, das erste Drittel der Säule und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er aus diesem Fenster zu mir herabsah, mit seinem kalten Blick der Ignoranz eines jeden Geschäftsmannes.

  Ich warte auf das vorfahrende Auto, welches ihn in wenigen Minuten am Eingang abholen müsste,...aber es kommt nicht. Ich warte auf sein Gesicht, wenn er als Letzter durch die Tür kommt und keine Karre mehr auf ihn wartet,...aber auch ihn kann ich nirgendwo kommen sehen. Es muss etwas, wie einen Hintereingang geben.

  Stattdessen werde ich von meiner Observation abgelenkt, als einer dieser Spätjogger mit einer Kapuze, die einen dunklen Schatten auf sein Gesicht wirft, an mir vorbei läuft und meinen Becher mit sich nimmt.

"HEY!", schreie ich ihm nach, bemerke dabei meine raue Stimme und wieder diesen unerträglichen Druck im Kopf. Scheiß Erkältung!

    Meine Augen kleben auf seinem Rücken, als er sich plötzlich umdreht und mir wieder entgegen läuft. Scheiße! Die Angst prickelt unangenehm auf jedem Zentimeter meiner Haut und ich schnappe hastig nach der frostigen Luft. Ich höre seine schnellen Schritte, wie sie mir immer näher kommen und mein Herz hämmert gegen meine Brust. Was will der von mir? Was will der mit meinem Becher?

Meine Augen weiten sich, als er an mir vorbei sprintet und den Becher vor meine Füße wirft. Ich bin so verwirrt, dass ich ihm noch nachschaue, wie er in die nächste Straße abbiegt. Ich greife nach dem Becher im Schnee. Er ist völlig durchgenässt und dreckig. Was das? Was hat er mit meinem Becher gemacht? Vorsichtig hole ich mit meinen zitternden Fingern einen Papierschein heraus.

Fünf und fünf...macht...Zehn!!

  Ich würde mir in die Wange kneifen, um sicher zu gehen, dass ich nicht träume, aber der kalte Boden fügt mir schon genug Schmerzen zu. Das muss aber ein Traum sein!

Heute scheint mein Glückstag zu sein!

Zehn...davon werde ich eine neue dunkelrote Decke für Chaplin kaufen können!

Zehn...soviel Geld hatte ich noch nie in meinen Händen.

Zehn...nun kann ich beruhigt schlafen gehen.


Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt