Nacktsein (Teil 3/4)

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In der Pause kaufte sich Lina am Schulkiosk eine Caprisonne und ein Käsebrötchen und spazierte zur Wiese, die sich hinter dem Hauptgebäude der Schule befand. Die Sonne stand wie eine Perle am Sommerhimmel. Auf dem Rasen spielten jüngere Schüler Fußball oder Fangen, oder sie standen einfach nur herum und schauten düster drein.

Lina lief zum Rand der Wiese. Eine dichte Gebüschwand grenzte sie vom nächsten Grundstück ab. Hierher verirrte sich selten jemand. Sie setzte sich auf ein kleines, vergessenes Mäuerchen, neben dem sich ein altes Metalltor befand, das zu einem Hinterhof führte. Sie zog sich den Kopfhörer von den Ohren und strich sich das rote Haar zurück - als sie die Stimmen vernahm.

»Du kamst dir dabei wohl ziemlich heldenhaft vor. Bist mal wieder in sämtliche Ärsche gekrochen. Ich sag dir jetzt was, Kersky, und weil ich es dir sage, sage ich es laut: Du befindest dich nicht unbedingt in der Situation, in der du dir solche Auftritte leisten kannst.«

Axel, irgendwo hinter der Gebüschwand.

Ein dumpfer Schlag, ein ersticktes Keuchen.

»Dafür, dass du dein Maul nicht halten kannst.« Wieder ein dumpfer Schlag. »Und das dafür, dass du dein verficktes Maul nicht halten kannst!«

Lina schlich die kleine Anhöhe hinauf und zog die Zweige der Gebüsche auseinander.

»Du sagst nur etwas, wenn ich es dir gestatte. Wenn nicht, könnte ich ja versehentlich ein paar von deinen kleinen Geheimnissen ausplaudern. Wie war das denn damals mit deiner Mutter, hm?«

Axel und Pascal hatten sich vor Ben aufgebaut. Ben sah erschreckend klein aus, noch jünger und weicher als sonst. Axel hielt ihn am Kragen seines schwarzen Kapuzenpullis fest, Pascal stand mit den Händen in den Hosentaschen neben ihm und grinste. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette. Es sah aus, als könne sie jeden Moment zu Boden fallen.

Ben lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vornüber und rang nach Luft. Er hielt die Augen geschlossen.

Axel führte die Lippen an sein Ohr. Sein Gesicht war rot angelaufen.

»Das war meine letzte Warnung, du Schwuchtel. Wenn du bei mir einkaufst, hast du dich zu benehmen. Und was deine Aktivitäten und Interessen angeht: Sieh dich vor. Ich behalte dich im Auge.«

Er langte Ben zwischen die Beine.

Lina zog die Äste auseinander und trat einen Schritt nach vorne. »Hallo.« Sie vernahm ihre fremd klingende Stimme wie aus weiter Ferne. »Was macht ihr denn hier?«

Axel und Pascal wirbelten herum. Einen Moment lang sahen sie erschrocken aus, doch dann grinsten sie.

»Schau, schau, schau! Wen haben wir denn hier? Die schlafende Hässlichkeit.« Pascal lachte wie nicht mehr ganz dicht, und zuerst dachte Lina, er habe einen hysterischen Anfall. »Verpiss dich, Kessler. Das hier geht dich nichts an.«

Ben, der zu Boden gesunken war, rang noch immer nach Atem. Das dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht. Er blickte nur eine Sekunde lang auf.

»Die hat aber schon ganz ordentliche Titten«, sagte Pascal. Axel lachte.

»Das ist wahrscheinlich der längste zusammenhängende Satz, den du jemals von dir gegeben hast«, sagte Lina. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und in ihrem Innern begann eine Stimme, vor Panik zu schreien.

Pascal sah sie mit dumpfem Blick an, ein Fragezeichen ohne Punkt, während Axel die ausdruckslose Mimik eines Berufsboxers zu kopieren versuchte. Lina konnte die Kopfhaut durch sein kurzes gegeltes Haar schimmern sehen. Über seiner linken Augenbraue befand sich ein Leberfleck.

Schwarzes Erbe (Autor: Jens Lossau)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt