Ich rede mit dir

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Erstes Kapitel

Aufhören wirst du zu fürchten, wenn du aufhörst zu hoffen, denn der Hoffnung folgt die Angst. Beides ist das Merkmal eines abhängigen, beides eines in Erwartung der Zukunft beunruhigten Gemütes. Das liegt hauptsächlich daran, dass wir uns nicht auf die Gegenwart einstellen, sondern die Gedanken in weite Ferne vorauseilen lassen. Die Erinnerung bringt die Qual der Angst zurück, die Voraussicht nimmt sie vorweg; niemand ist nur wegen der Gegenwart unglücklich!  

Seneca, 5.Brief 

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Jimi Hendrix durfte mit Uschi O. vögeln. Das hatte Stil, das ist uns im herbstlich trüben Gedächtnis haften geblieben, und Jimi wurde unsterblich. Für mich blieb nur der Feld-, Wald- und Wiesenschrott. Wenn ich über die entgangenen Möglichkeiten nachdenke, dann spüre ich, dass sich der Frust wie der Affe in meinem Genick festgebissen hat. Aber das Leben ist nun mal hart und das Alter nichts für Feiglinge. Für den kläglichen Rest meiner Lebenszeit bleibt ein kleiner Trost. Jimi ist seit vierzig Jahren tot, und ich lebe immer noch, und das hat auch seine Vorteile. Denn ich kann dir jetzt meine Geschichte erzählen.  

Du schüttelst mitleidig deinen angegrauten Kopf. Du glaubst mir nicht? Das was ich dir jetzt erzähle, hat sich tatsächlich so zugetragen. Ich rede nicht über die Frau, mit der ich viele Jahre meines kostbaren Lebens vergeudet hatte. Ich meine die unvergleichliche, die göttliche und einzigartige Sina, also Petra, die sich Sina und wie ich später erfahren habe, oft auch ganz anders nannte.  

Ich weiß, jetzt wird es kompliziert, und vielleicht klingt es für dich irritierend, aber ich hätte es wirklich und wahrhaftig und noch viel mehr getan, wenn sie es verlangt hätte, was sie aber nicht getan hat. Ja, ich hätte auch den Boden abgeleckt, auf dem sie ging. 

Warum sie es nicht von mir verlangt hat?  

Auf diese Frage weiß ich bis heute keine Antwort. Ich will auch nicht mehr darüber nachdenken, weil ich nicht mehr daran denken will, dass ich immer noch an sie denken muss. Vielleicht ahnte sie nur nicht, wie weit sie gehen konnte und was ich für sie zu tun bereit war. 

Du fragst dich, warum ich dir meine Erlebnisse mit der einmaligen und göttlichen Sina, also Petra, die sich Sina nannte, erzähle? Weil verheiratete Männer, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, häufig von so einer Art Leichenfrust in Verbindung mit einem besonderen Mitteilungsbedürfnis befallen werden. Bis zu einem bestimmten Punkt, haben die sich irgendwie mit ihrem Leben arrangiert, und das war 's dann - denken die. Bei mir war es nicht anders. Und dann, ganz plötzlich und wenn du schon aufgegeben hast, und eigentlich nicht mehr damit rechnest, meldet er sich - dein revolutionärer Überlebenswille. Er packt dich an deiner Seidenkrawatte, zieht sie langsam zu und spricht freundlich, aber doch bestimmt zu dir: „Sei einmal in deinem Leben stark und entscheide dich. Es gibt nur einen Mann im Haus. Vergiss die Selbstzusammenschraubregale mit Riester-Rente. Vergiss die unendlichen Abwasch- und Putzdiskussionen die dich zum nutzlosen Domestiken degradieren. Vergiss den dir verordneten Deo-Roller und die widernatürliche Sitzpinkelei. Verscheuch die Rotznasen, die angeblich von dir sind. Geh nicht zum gemeinsamen Elternsingen in die Waldorfschule. Sperr jetzt und sofort deine Frau weg, oder schick sie in die Küche wo sie hingehört. Sie hat hier nichts zu suchen. Sie soll nicht mitlesen und du musst dich nicht solidarisch zeigen. Sie würde es doch nicht verstehen ..."  

Du siehst, der Überlebenswille ist ein ziemlich durchgeknallter Typ und das was er sagt klingt nicht nur für deine Ohren hart. Auch ich habe mich lange Jahre gegen sein Geflüster zur Wehr gesetzt. Aber glaube es mir - eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche - auch du wirst es eines Tages so und nicht anders hören und erleben, wenn du erst mal mein Alter erreicht hast. Das soll jetzt nicht überheblich klingen, denn das ist es nicht. Es ist auch nicht die scheinbare Weisheit des Alters, die mich zum Zyniker gemacht hat. Altersweisheit ist nur eine platte Entschuldigung für ein Sammelsurium gelebter Erfahrungen.  

Warum es bei mir so war? Mich hat mein Überlebenswille überzeugt. Seine Argumente waren besser, und er hat mir eindringlich zugeflüstert: „Raoul du musst durchhalten und unter allen Umständen die Kapitulation vermeiden, auch wenn die Einschläge unaufhaltsam und immer schneller näher kommen."  

Was ich dir damit sagen will, wirst du vielleicht verstehen, wenn ich dir meine ganze Geschichte erzählt habe.  

Du bist noch jung, und an deinem gelangweilten Gesichtsausdruck kann ich deine Gedanken ablesen. Erzählte, und noch weniger geschriebene Banalitäten älterer Männer interessieren dich nicht wirklich. Ich muss zugeben, meine Erlebnisse sind auch nur Alltäglichkeiten, die jedem von uns passieren können, wenn Zeit, Schmerz und Perspektive sich in der idealen Konstellation befinden, um sich gegenseitig die angstschweißigen Hände zu schütteln.  

Walk a mile in my shoes, auch wenn du es noch nicht verstehst. Schon bald wirst du dich an mich erinnern. Spätestens dann, wenn du dich verzweifelt fragst: „Sag mir wo die Jahre sind, wo sind sie geblieben?" 

Du sagst, diese Frage stellt sich dir nicht, denn du hast noch Zeit? Wenn du dich da mal nicht irrst. In der ersten Hälfte deines Lebens kannst du alles erreichen und bewirken. Du hast Zeit. Du kannst üben, probieren und dir die „Hörner" abstoßen. In der zweiten Hälfte vergeht die Zeit immer schneller und du brauchst mehr Zeit für das, was du dir vorgenommen hast. Am Ende steht immer und unausweichlich der Tod. Danach kommt nichts mehr. Deine Witwe wird ein paar Tränchen vergießen, und sie wird mit deinem Geld einen Jüngeren finanzieren, der einer sehr Jungen mit großen Titten vormacht, er habe Geld. Der Tod nimmt keine Rücksicht, ob du das, was du dir im Leben vorgenommen hast, auch erreichen konntest.  

So hast du es noch nie gesehen? Du hast noch nie bewusst an das letzte Drittel deines Lebens gedacht? Dein selbstgefälliges Lächeln kann mich nicht täuschen. Morbide Gedanken gehören zum Anfang vom Ende, wie der widerliche Gestank zu einem langsam verfaulenden Kadaver.  

Du schweigst betroffen? Die Falten in deinem Gesicht verraten dich. Du bist nachdenklich und bedrückt. Das ist gut so, denn das was ich dir jetzt berichte ist die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und es ist auch dein Schicksal.  

Wie ich es bemerkt habe? Ich denke, es war die Routine. Schleichend und zuerst vollkommen unbemerkt, fast wie von einem kurzen Tag auf den nächsten, der sich in nichts von seinem ereignislosen Vorgänger unterschied. Was hatte ich für eine Wahl? Ich konnte nichts dagegen tun. Alles, vom frühen Morgen bis in die Nacht war schon mal erlebt, und wie ein übriggebliebenes Fertiggericht immer wieder verdünnt und aufgekocht.  

Ich muss zugeben, spontan und immer öfter, aber nur damals und heute nicht mehr, habe ich an einen klassischen Mord gedacht. Nicht blutig wie ein Steak, eher gut abgehangen, raffiniert gewürzt und sorgfältig tranchiert, um dann im Bewusstsein, dass eine Grundreinigung auch die letzten Spuren beseitigen würde, den geleerten Teller in die Spülmaschine zur Reinigung zu stellen. Die Gedanken sind ja bekanntlich frei, und es blieb auch bei der Theorie. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Zuerst habe ich begonnen, einige Worte aneinander zu reihen, aber es waren nur Hülsen ohne Inhalt, die keinen Sinn ergaben. Dann entstanden Sätze, und jetzt ist so etwas wie ein umfangreiches Buch daraus entstanden.  

Du möchtest kotzen und meine morbiden Gedanken nicht lesen? Es sind zu viele Seiten und das Lesen strengt dich zu sehr an? Das macht nichts, du bist schon mitten drin - in unserer Geschichte.  

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MIDLIFE CRISISWo Geschichten leben. Entdecke jetzt