Leseprobe von "Waldläufer"

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Ein unerbittlicher Kampf

Wolders gespaltene Hufe wühlten mit jedem Aufschlag den weichen Waldboden auf, wobei ihm die Erdklumpen um seine Ohren flogen. Die vorüberstreifenden Äste und Dornen konnten ihm nichts anhaben und zerbarsten unter seiner rasenden Wildheit. Unzählige starre Borsten schützten seine dicke Haut. Er war Wolder, der mächtigste aller Eber, er war unsterblich und in seiner Brust hämmerte unermessliche Wut. Sein Zorn kannte keine Grenzen, er brannte danach, seinen Gegner zu vernichten, koste es, was es wolle. Sei es die letzte zu vollbringende Tat in seiner Existenz, er sah rot. Seine Augen waren blutunterlaufen und färbten die Umgebung in purpurne Farben. Die Farbe des Zorns, des Hasses, einen anderen Weg gab es nicht, er musste ausbrechen, sich austoben, er kannte sich gut. Mit seiner Raserei wuchs seine Macht. Er liebte dieses Hochgefühl. Mit einem entsetzlichen Schrei ließ er den Boden erbeben und die Bäume erzittern. Die Welt gehorchte ihm, unterlag seiner Gewalt! Wer immer sich ihm entgegenstellen mochte, er würde ihn vernichten! Wolders furchtbarer Tierschrei wurde augenblicklich beantwortet. Ein Brüllen, so tief und laut, dass es direkt aus den Gedärmen der Erde zu kommen schien. Wolder kannte seinen Feind, nahm Witterung auf und raste mit gesenktem Haupt in die Richtung, aus der die Antwort auf seine Herausforderung gekommen war. Zwei unterschiedliche Gegner, die sich an Gewalt und Kraft in nichts nachstanden, würden ihren Streit in dieser Nacht austragen. Orthan, Herrscher über alle Bären, erwartete den Eber, richtete sich auf seinen Hinterpfoten auf und schnüffelte geräuschvoll in die stürmischen Lüfte. Der Wind konnte sein Verbündeter oder sein Feind sein. Doch in dieser Nacht würde ihn Wolder nicht überraschen. Er wusste, wann und von wo er kommen würde, dieser Unruhestifter, der sich aufspielte, als gehöre der Wald ihm. Orthan ließ sich wieder auf seine Pranken nieder, um aus Leibeskräften seinen Gegner herbeizurufen. Sollte er kommen. Er würde sich einen Spaß daraus machen, seine scharfen Krallen in sein Fleisch zu graben. Die Bäume neigten sich unter Wolders durchbrechendem Gewicht, doch Orthan ließ sich von so einem Schauspiel nicht beeindrucken. Wolder war und blieb ein altes Wildschwein, das mit gesenktem Haupt blindlings durch das Land raste, weil es von seiner Kraft überzeugt war. Hier war er, der König aller Bären! Seine Pranken erwarteten ihn. Seine Zähne lechzten nach Blut. Mit urgewaltiger Kraft donnerten die Erzfeinde aufeinander. Ihr unerbittlicher Kampf sollte bis zur nächsten Morgendämmerung dauern. Die Erde erzitterte unter ihrem Aufprall. Ihr Geschrei erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Brüllen des tosenden Windes. Birr, Meister aller Hirsche, wusste im Voraus, wie dieser Streit ausgehen würde. Die Elemente brauchten eine Weile, bis sie sich wieder in ihre geregelten Bahnen einordneten. Wind, Wasser und Erde wirbelten durcheinander und bildeten ein grandioses Spektakel, welches nur Wesen wie Birr oder seine kämpfenden Feinde sehen konnten. Er selbst hatte sein letztes Wort noch nicht gesprochen und überließ diese Nacht den beiden Streithähnen. Sowohl Orthan als auch Wolder waren im Ansehen Birrs nur raue Halunken, die des Waldes nicht würdig waren. Eines Tages würde seine Zeit kommen und dieser Moment war gewiss näher, als den beiden Dummköpfen klar war. Er nahm die Witterung des entflammten Kampfes in seinen bebenden Nüstern auf und fühlte die Kraft in seinen Gliedern pulsieren. Sein mächtiges Geweih schimmerte im silbernen Licht des Vollmondes, doch er griff nicht ein. Sollten sie sich nur gegenseitig Schaden zufügen, er konnte abwarten. Mit erhabenen Schritten wandte er sich von der lichten Anhöhe ab und dem Wald zu, doch er hielt seine scheinbare Ruhe nicht lange aus. Die Erregung des entbrannten Zweikampfes hatte ihn erfasst und er musste ihr Platz schaffen. Mit riesigen, weit ausgreifenden Sprüngen raste er durch sein Land, dass die Umgebung nur so an ihm vorüberrauschte. Hier kam Birr, der sich selbst als zukünftiger Herrscher des Waldes auserkoren hatte. Keiner konnte ihn bezwingen! Er würde sich nie einer Macht Orthans oder Wolders unterwerfen! Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als sie herauszufordern und ein für alle Mal klarzustellen, wer der eigentliche Herr des Landes war.

*

Freitagmorgen, zwanzig nach sieben, in der engen Küche der überheizten Mietswohnung herrschte eine mühsam unterdrückte Spannung. Der Wetterbericht im Radio konnte das Ende der verheerenden Stürme nicht voraussagen. Im Grunde war die Wetterlage Herrn und Frau Dupont gleichgültig. Sie lebten in Paris, dort bekam man vom Wetter nicht so viel mit wie auf dem Land. Zwischen den Appartements und denBüros konnte man weitgehend vermeiden, sich Regen und Sturm auszusetzen. Von der vorherrschenden Wetterlage hing allerdings ihre wohlverdiente bevorstehende Verschnaufpause ab. Sie mussten sich eingestehen, dass seit einigen Jahren eine drückende Stimmung, um nicht zu sagen, dicke Luft zu einem Dauerzustand in ihrem alltäglichen Leben geworden war. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 16, 2013 ⏰

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